Vorwort Katalogheft FORM - FARBE - GESTE

Humanistischer Fortschritt ist nur denkbar, wenn er fortschreitet, fort schreitet. Fort - wovon und wohin? Fort aus der Gegenwart, aus dem Bannkreis des Zeitgeists hin zu ... ...das ist ein Ziel, eine Richtung, eigentlich ein Richtungssinn, der sich aus der Überwindung des Zeitgeists ergibt. Also, wie ist der heutige Zeitgeist, und was ist daran reaktionär? Vulgarisierte postmoderne Philosophie, Pluralismus, Parlamentarismus sind ideologische Faktoren, mit denen man sich kritisch auseinandersetzen muß. Die Postmoderne behauptet, es gäbe keine - nicht einmal theoretisch - allumfassende Wahrheit. Sie sieht die Widersprüche nicht in ihrer dialektischen Natur, sondern antagonistisch, darum seien Erscheinungen nur fragmentarisch begreifbar. Ihre vulgarisierte Form leugnet die Wahrheit überhaupt. Dies hat einen Pluralismus zur Folge, der die Meinung des Einzelnen als »Wahrheit des Einzelnen« definiert, und damit den wesentlichen Unterschied an Stringenz und Allgemeingültigkeit ignoriert. Wenn die Wahrheit ihre Funktion als Entscheidungskriterium an die Meinung abtritt, müssen bei der möglichen Vielfalt und Divergenz der Meinungen, diese gewichtet werden. Meinungen können manipuliert sein. Durch Parlamentarismus werden Entscheidungen gefällt - in Wirklichkeit legitimiert -, die im Interesse der Kraft stehen, die am wirkungsvollsten ihre Manipulation durchzusetzen vermag. Diese Erscheinungsformen heutigen Zeitgeists dienen der Erhaltung etablierter Machtstrukturen. Das Wahrheitsverständnis aus seiner Krise zu führen, wäre fortschrittlich. Umfassendere Gültigkeit hat jeweils die Aussage, die die Randbedingungen einer anderen Aussage mit zum Inhalt ihrer Aussage macht (natürlich dabei neue Randbedingungen schafft). Die absolute Wahrheit - die keine Randbedingungen mehr hat, deren Gültigkeitssektor gegen 360° geht - als Synthese aller wahrhaftigen Aussagen, ist zwar in ihrer Komplexität, Unschärfe und Relativität ein Theoretikum, aber doch eine Asymptote. In wenigstens einem Aspekt waren sich der Westen und der Osten gleich: die Dialektik in den Widersprüchen nicht verstanden zu haben und nur deren Unvereinbarkeit zu behaupten. Während aber der mechanische Materialismus einen einmal erreichten Standpunkt dogmatisch als die Wahrheit verteidigte und jeden Widerspruch als Wirken des Gegners empfand, herrschte auf der anderen Seite eine Ideologie, bei der man zwar die Widersprüchlichkeit akzeptierte, aber dafür deren Möglichkeit und Notwendigkeit einer Einbindung in Wahrheiten leugnete. So wurde in den Künsten in dem einen Lager ein Sozialistischer Realismus installiert, dessen Aussage a priori festgelegt war, und im anderen Lager vollzog sich eine individualistische Kunstproduktion, die eine beliebige Interpretations«freiheit« bis hin zur Aussagelosigkeit akzeptierte oder im anderen Fall sich hochgradig spezialisierte, um als Konzept-Kunst originell und einmalig zu sein. Modelle gewinnen mit zunehmendem Abstraktionsgrad an Allgemeingültigkeit und verlieren in gleichem Maße ihre Aussage. Die Entwicklung der Malerei in der Vergangenheit bis ca. 1960 erscheint aus heutiger Sicht zwangsläufig und kontinuierlich einem allgemeinem Prinzip zu gehorchen: der Emanzipation der malerischen Mittel von der Funktion, visuell wahrnehmbare Realität wiederzugeben. Einige Beispiele dieser Befreiungsbewegung: Van Gogh begann, die Farbe nicht gemäß ihrem Auftreten in der Natur, sondern ihrer ästhetischen Notwendigkeit für die Bildkomposition zu setzen. Matisse befreite die Malerei von der Notwendigkeit einer Tiefenillusion des Raumes, Kandinsky vom gesehenen Gegenstand und die Informellen von der Form überhaupt. Man befreite sich vom Tafelbild und gelegentlich auch von der Kunst... Der Weg führte nur in die Unabhängigkeit; in die Freiheit von..., aber nicht in die Freiheit zu... Parallel dazu verlief die Ausprägung stilistischer Merkmale, die zwar immer im Manierismus endete, aber in ihrem Anfang jeweils von ein und demselben Motiv getrieben wurde: der Erkundung einer Wahrheit in der Realität. Dabei hat sich lediglich die Auffassung darüber gewandelt, welche Ebene der Realität die relevante sei. Die Naturalisten gaben einen Moment-Eindruck wieder, wie er nach einem Seh-Erlebnis im Gedächtnis zurückbleibt, also, welche optischen Reize letztlich unser Bewußtsein wahrnimmt. Die Impressionisten und Pointillisten , vom Fortschritt in der Entdeckung des Lichtes und der Optik beeindruckt, wollten die optischen Reize wiedergeben, die unser Auge wahrnimmt. Nicht den Gegenstand sei sichtbar, behaupten sie, sondern das Licht, das jener reflektiert. Die Expressionisten wandten sich gegen eine simple Wiedergabe der optischen Hülle und behaupteten, die Wahrheit liege im Wesen der Dinge, das sie bewußt wahrnehmen und komprimiert wiedergeben. Angeregt durch die Entdeckungen der Psychoanalyse, wollten die Surrealisten das Unbewußte als das eigentlich Wahre visualisieren. Deren Versuch, in unkontrollierter Geste Psychogramme anzufertigen, führte in die informelle Malerei. Und nun zwei Fragen: Was heißt Freiheit in der Malerei; Freiheit zu was? Worin können wir heute die Wahrheit in der Malerei suchen? Ich denke, in der Synthese aller wahrhaftigen Aussagen, d.h. in der Synthese der emanzipierten malerischen Mittel. Aber eben nur in der Synthese und nicht in der Mixtur. Das nämlich hat schon die Postmoderne geschafft: Stilfragmente nebeneinander zu stellen, ohne sie zu fusionieren. Widersprechende Aussagen koexistieren zu lassen, ohne die verbindende Dialektik zu finden. Die Synthese verschmilzt nicht die Erscheinungen sondern die Wesen der Dinge, so wie Wasserstoff und Sauerstoff erst durch chemische Reaktion einen neuen und homogenen Stoff bilden.

T.M.R.