Thesen zur Begründung des inhaltlichen Konzeptes von

FORM-FARBE-GESTE

 

1.

Der Zusammenbruch fast aller Autoritäten im Verlaufe des 20. Jahrhunderts führte die Menschen der westlichen Welt nicht in die Freiheit, sondern unter die Herrschaft der anonymen Autorität des Konformismus, der Massenmedien und der Spielregeln des Marktes. [siehe auch: Erich Fromm: Der moderne Mensch und seine Zukunft / Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft]

 

2.

In diesem Prozeß erfolgte auch eine, von der postmodernen Philosophie durch ihren Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt scheinbar gerechtfertigte, Relativierung der Autorität des Wahrheitsbegriffes: Der Glaube an die Zwingkraft der Wahrheit ging verloren; an ihre Stelle wurde die Meinung und die Meinungsfreiheit als höchstes Gut gesetzt. Freiheit wurde überhaupt zum zentralen Begriff der Kultur nach dem 2. Weltkrieg.

 

3.

Unter Freiheit wurde lediglich Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit verstanden.

 

4.

Im Kampf der sich feindlich gegenüberstehenden Systeme wurde die Kunst in einem Lager als sozialistischer Realismus und in dem anderen, insbesondere der abstrakte Expressionismus, als »Kunstform der Freiheit« [Haftmann] weitgehend instrumentalisiert. Die Aussage im Kunstwerk wurde a priori als »Sprachrohr pervertierter Ideale« [G.-W. Költzsch] beargwöhnt. Nur abstrakter Kunst konnte »Repräsentanz zugesprochen werden ..., da sie unbehindert von außerkünstlerischen Forderungen in Freiheit vollzogen wird« [Haftmann].

 

5.

Es erwies sich aber, daß die informelle Kunst durch ihre Beliebigkeit, durch ihre Schwerelosigkeit keinen Standpunkt zu beziehen und eben gerade durch ihre Aussagelosigkeit mit weit maßloseren Missionen betraut werden konnte und sich prostituierte:

 

»Die abstrakte Kunst dagegen erreichte in den 50er Jahren ihre Alleinherrschaft, wurde sie doch zunehmend als Inbegriff der Demokratie und als Zeichen der Westintegration ideologisiert und auch politisch unterstützt. Im Besonderen zeigte sich dies in der Förderung abstrakter Kunst durch die CIA, welche die ersten europäischen Ausstellungen der »Abstrakten Expressionisten« mehr als offensichtlich als Zeichen der westlichen Freiheit wider die östliche Unfreiheit finanzierte.[106] Aber nicht nur die Anweisungen aus Amerika offenbarten eine politisch motivierte Förderung der Abstraktion, sondern auch die nachweisbaren staatlichen Ankäufe abstrakter Kunstwerke, die Vergabe von öffentlichen Kunstpreisen an abstrakt arbeitende Künstler [107] und die Werkauswahl für öffentliche Kunstausstellungen, die in den 50er Jahren vor allem durch zahlreiche Retrospektiven der Väter der Abstraktion zum Ausdruck kam.[108] Neben der amerikanischen und staatlichen Unterstützung kam eine dritte, die industrielle hinzu: die seit etwa 1951 mäzenatische Förderung der Abstraktion durch den Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). Der in ihm gegründete »Kulturkreis« förderte ausschließlich die abstrakte Kunst, indem er Preise verlieh, Stipendien vergab, abstrakte Bildwerke kaufte oder ab 1954 das Periodikum »Jahresring« herausgab, indem einige der damaligen Starkritiker wie Franz Roh oder Werner Haftmann sich den ästhetischen Reizen der Abstraktion widmen konnten.[109] So wurde das Informel auf mehreren Ebenen als Bekenntnis zum freien Westen hervorgehoben. Und es wurde zur Staatskunst, indem man ihm politische Macht verlieh. Die direkte Beeinflussung »von oben« ging allseitig auf und wirkte sich bis in die Kunstrezeption aus: bald war die anfangs noch »publikumsfremde« Kunst auch gesellschaftlich akzeptiert und führte zu einer Zunahme privater Sammler abstrakter Kunst.

106 Vgl. Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001; 189

107 Vgl. Andritzky, Christoph: Deutsche Kunstpreise 1946-1961. Eine dokumentarische Übersicht, hrsg. vom Deutschen Kunstrat und der deutschen Sektion der internat. Gesellschaft der Bildenden Künste, 2. ergänzte Auflage, Köln 1962;

108 Vgl. Hermand 1991, 154;

109 Vgl. Wenk, Silke: Der Kulturkreis im BDI und die Macht der Kunst, in Ausstellungskatalog: Zwischen Krieg und Frieden 1980, 80ff; vgl. weiter Glaser, 1997, 291, Warnke 1985, 212 und Roh, J.: Industrie als Mäzen, in: Die Kunst und das Schöne Heim, H.4, 1954, 136-139;«

[Annette Doms, Dissertation an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2004].

 

6.

Auch wenn heute selbst von der Kulturindustrie beklagt wird, daß die informelle Kunst ihr Versprechen nicht eingelöst hat und man nunmehr versucht, dem »Inhalte« entgegenzusetzen, vollzieht sich dennoch eine Kunstproduktion, die nicht aufrüttelt, die kaum einen unvermittelt erreicht, da sie nicht für sich selbst sprechen kann.

 

7.

Kunst hat keine Wirkung wenn sie nicht wahrgenommen wird und, um des Blickes gewürdigt zu werden, hat sie nur ihre Attraktivität, die sich in ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit begründet. Ansonsten muß sie sich mit dem Establishment arrangieren, um als gewichtig zu gelten. Dies birgt sowohl die Gefahr des Korrumpierens und der Selbstzensur als auch die, daß der Betrachter sie nur wahrnimmt, um selbst der Gewichtigkeit teilhaft zu werden und so am Inhalt vorbeigeht.

 

8.

Eine Kunst, die nicht Spielball der Ideologien und Interpretatoren sein will, muß einen formal-ästhetischen und einen, im weitesten Sinne, politischen Standpunkt zugleich beziehen. Je mehr Gewicht die Kunst bekommt, je mehr sie sich zu etwas bekennt, je mehr sie vereint: Leidenschaft, Intellekt, Form, Farbe und Geste, umso weniger wird sie im Wind von Mode und Weltanschauungen hin- und hergeweht.

 

9.

Deswegen soll mit den Begriffen Synthese oder Integration und deren Beziehung zu Freiheit, Verantwortung und Wahrheit das zentrale Anliegen der Ausstellung »Form-Farbe-Geste 2008« und ihrer Veranstaltungen beschrieben werden.

 

10.

Hierbei hebt sich die Synthese grundsätzlich von der postmodernen Mixtur ab: die Synthese verschmilzt nicht die Erscheinungen, sondern das Wesen der verschiedenen Dinge.

 

11.

Die höchste Vollkommenheit eines Kunstwerkes wäre die Synthese aller stilistischen Errungenschaften, die jeweils notwendig sind, das künstlerische Anliegen adäquat umzusetzen. Es ist gerade die Schwäche einer künstlerischen Haltung, wenn sie einer stilistischen Idee sklavenhaft dient und dabei den Wiedererkennungs»wert« geschickt marktgerecht ausnutzt als angeblichen Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers.

 

12.

Spätestens seit dem Neoimpressionismus wurde in der Malerei die Herangehensweise der Analyse immer verschärfter betrieben. Dabei wurde jeweils nur ein Aspekt des künstlerischen Gestaltens unter Ausblendung aller anderen geduldet, untersucht und stilisiert. Dabei kann es nicht ausbleiben, daß eine Entfremdung (zwischen Erscheinung und Wesen der Malerei) den beabsichtigten Erkenntnisgewinn begleitet.

Das Merkmal der Synthese wird dagegen sein, daß sie nicht auffällig ist; sicherlich wird sie Bekanntem ähneln. Aber das Neue der Synthese ist die Einheit und Erkenntnis nach der Analyse und der Entfremdung im Gegensatz zur Einheit der im produktiven Sinne überwundenen Entwicklungsstufe davor.

 

13.

Eine Auswahl von 15 bis 20 Malern soll vom Kurator Andreas Hüneke (Vizepräsident des internationalen Kunstkritikerverbandes — Sektion Deutschland) vorgenommen werden, deren Werk Annäherungen an das Prinzip der Synthese zeigt. Damit dieses Prinzip auch für sich spricht und vom Rezipienten trotz der individuellen Handschriften erkannt wird, muß nicht nur eine Mindestanzahl von 15 Künstlern ausgestellt werden, sondern jeder Künstler muß mit einer seine Haltung repräsentierenden Auswahl seiner Werke vertreten sein.

 

14.

Wie jede Unternehmung braucht eine Ausstellung Grenzen. Das Thema einer Ausstellung auf den Wohnort der Künstler zu beziehen, wird aus künstlerischer Sicht immer fragwürdiger, da durch die Erweiterung ins Innere (Individualismus) und ins Äußere (Internationalismus / Globalisierung) eine Verbundenheit zur Heimat kaum noch besteht und das zu dokumentieren, also die Verschiedenheit zu zeigen, würde auch ohne den lokalen Rahmen zum gleichen Ergebnis führen.

Auch eine thematische Festlegung ist problematisch, da dies zu einem Import außerkünstlerischer Ideen ins Kunstwerk zwingt und somit selten authentische Resultate liefert.

Deswegen sehen es die Organisatoren der Ausstellung als ihr Anliegen an, eine Haltung zu zeigen und zwar genau jene,

-   die sich aus dem Spielraum von Freiheit und Verantwortung ergibt,

-   die auf der Suche nach Wahrheit ist und diese zur Darstellung bringen möchte

-   und deren formal-ästhetischer Niederschlag sich als Synthese manifestiert.

Um nicht in Beliebigkeit abzugleiten muß dort, wo der Überblick aufhört, auch eine territoriale Grenze gezogen werden und so wurde sich auf in Deutschland lebende Künstler beschränkt.

 

15.

Diese Haltung will inhaltliche, stilistische und emotionale Verbindlichkeiten eingehen. Dadurch zeigt sie ihre Bereitschaft und auch Befähigung, sich zur Diskussion zu stellen. In der Diskussion kann solche Malerei durchaus auf narrativer, formalistischer oder emotionaler Ebene Wahrheiten erarbeiten und damit den Glauben stärken, daß sich Auseinandersetzung lohnt und daß es Medien gibt, die Hoffnung aber auch Kritik stiften können. Indem sie sich zur Verbindlichkeit bekennt, weist diese Haltung darauf hin, daß es nicht das Ideal sein muß, frei von Verantwortung zu sein. Im Gegenteil: es bedarf der Freiheit von den das Individuum knechtenden Zwängen, um zu der Verantwortung befähigt zu sein, die darin besteht, die Wahrheit zu ergründen und aufzuzeigen.

 

16.

Die Ausstellung und auch die weiteren Veranstaltungen haben nicht in erster Linie das Ziel konkrete Inhalte zu vermitteln, sondern die Vermittelbarkeit von Aussagen soll hier Mittel für eine tiefe Kommunikation mit dem Betrachter sein. Der Mensch, allgegenwärtig umgeben von Kommunikationsmitteln, kommuniziert gerade dadurch selten tatsächlich, sondern ist eher Befehlsempfänger. Und er gewöhnt sich immer mehr daran, mit von Menschen geschaffenen Dingen und Verhältnissen, die er nicht versteht, konfrontiert zu sein. An dieser Agonie ist auch die pseudointellektuelle Verrätselung in der Kunst nicht unschuldig. Die Ausstellung soll Werke vereinen, die den Betrachter sinnlich reizen, seine Aufmerksamkeit wecken und ihm das Gefühl geben, daß deren Anliegen nicht unverständlich ist.

 

17.

Es ist geplant, daß die Ausstellung »Form-Farbe-Geste 2008« in Chemnitz stattfindet. Als geeignetes Objekt wird in Absprache mit der GGG Chemnitz die Alte Aktienspinnerei in Erwägung gezogen. Zum Zweck der Erfassung diverser Mängel als auch zur Anfertigung eines Hängeplans wurde von allen Etagen ein genaues Aufmaß angefertigt.

 

18.

Zur Eröffnungsfeier wird das Theaterstück »Die Fliegen« von J.-P. Sartre aufgeführt, das das globale Anliegen der Ausstellung auf seine Weise bewältigt.

Sartre benutzt in den Fliegen die alte Atridentragödie über die Rache des Orest und der Elektra an Ägist und Klytämnestra als stoffliche Grundlage für das aktuelle Thema der Entschlußfreiheit des Menschen. In dem unterdrückten und besetzten Frankreich wurden die Fliegen auch als Zeitstück, als ein Beitrag zur Bewältigung einer unerträglichen Wirklichkeit verstanden. In dieser Situation erschien Sartres Drama, in dem Jupiter zu Ägist sagt: »Das schmerzlichste Geheimnis der Götter und der Könige: daß nämlich die Menschen frei sind, und sie wissen es nicht.« wie ein Aufruf zur Tat. Die weit größere Wirkung ging jedoch davon aus, daß das Stück die philosophische Rechtfertigung der Tat bot.

Orest ist nicht bereit, den ausgetretenen Pfaden seines Lehrers zu folgen, der die Meinung vertritt man dürfe sich an nichts binden, denn nur so könne man über den Dingen stehen. Dem Lehrer entwachsen, will Orest nicht den »lächelnden Skeptizismus«, sondern die Verpflichtung, die er in sich fühlt. Orest wählt die Tat, er tötet Ägist und Klytemnästra, die das Volk durch eine monströse Kultivierung von Schuldgefühlen in Unterdrückung halten. Im Sinne der existentialistischen Philosophie nimmt er durch diese Wahl seine Freiheit war; zugleich aber ist er auch zu dieser »Freiheit verdammt«, denn Argos ist für ihn nicht ohne Bindung: es ist seine Vaterstadt. »Ich bin frei, Elektra!« ruft er aus, »Die Freiheit hat mich getroffen wie ein Blitz.« Seine Freiheit liegt in der Tat, die er zu begehen bereit ist, in der Verantwortung für etwas, was ihm wichtig wird. Eine Freiheit und eine Verantwortung, die ihn zu dem machte, was er nun ist: Er fühlt sich keinen fremden Plänen mehr ausgeliefert, keinen Gesetzen mehr unterworfen.

Interessant ist in dem Stück, wie Elektra, die sich den Mord so viele Jahre herbeigesehnt hatte, in Reue verfällt, während Orest seine Unschuld bewahrt.

 

19.

Wie bei der Ausstellung »Form-Farbe-Geste 1999« auf Schloß Augustusburg soll die Eröffnung von zwei Konzerten begleitet werden.

Ein komponiertes Werk zeitgenössischer Musik, realisiert von einem heterogenen Orchester, welches speziell für diese Komposition zusammengestellt wurde, spannte den Bogen von Barockmusik bis Free Jazz in anstrengenden Reibereien bis hin zum Konsens. Im Prinzip Ähnliches ist auch 2008 zu erwarten.

Das andere Konzert internationaler Besetzung soll eine improvisatorische Annäherung vier herausragender Musikerpersönlichkeiten sein, die bisher noch nicht zusammen auf der Bühne standen, jedoch gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit aber auch Befähigung in der Lage sind, zu zeigen, was unter Synthese (Fusion) verstanden werden kann. Dieses zweite Konzert hat auch einen gewissen Symbolwert. Mit den Musikern Keith Tippett, John Marshall, Elton Dean und Hugh Hopper wurden 1999 in Augustusburg die wichtigsten Mitglieder der Formationen Soft Machine, Nucleus und Keith Tippett Group ausgewählt, die ab 1968 eine Fusion der europäischen ernsten Musik, des Free Jazz und der Kraft elektrisch verstärkter und verzerrter Rockelemente erarbeiteten. Sie wurden wegweisend für die gesamte europäische Avantgarde-Musik und den Jazz. Auch die Rockmusik orientierte sich daran und wurde komplexer: King Crimson, Yes u.a. Für Chemnitz 2008 ist ein Auftritt von Musikern geplant, die ähnlich kraftvoll und virtuos agieren: John Marshall, Hugh Hopper, Joe Sachse, Manfred Hering und Hansi Noack. Wie das musikalische Resultat aussehen wird, bleibt dennoch offen.

 

20.

Im Verlaufe der Ausstellungsdauer, die vorerst auf zwei Monate festgelegt ist, sollen weitere Veranstaltungen einladen:

- Live-Musik-Performance mit dem Film Metropolis von Fritz Lang (Stummer Film — Laute Musik)

- Diskussionsrunde mit geladenen Podiumsgästen zur Fragestellung: wie wissenschaftlich kann Kunstwissenschaft sein?

- Vortrag: Expressionismus in Chemnitz von 1909 bis heute

- Führungen durch die Ausstellung in Anwesenheit einiger der ausstellenden Künstler zu ausgewiesenen Terminen.

 

21.

Ganz im Geiste des gesamten Projektes, dem die Frage inhärent ist, wie weit Spezialisierung gehen kann bis sie in Verantwortungslosigkeit einmündet, ist als Abschluß der Ausstellung ein Preisausschreiben geplant, bei dem die Beantwortung der Fragen eine umfassende Bildung erfordert, aber auch ein intensives Beobachten von Natur und Gesellschaft mehr dient als das Studium der Massenmedien.

 

22.

Nicht in den Erscheinungsformen der Ausstellung und ihrer Veranstaltungen wird die Einheit gesucht (das wäre z.B., daß alle über das gleiche Thema referieren, ohne sich aber auf dem jeweils metierimmanenten Terrain zu durchdringen), sondern in der Gemeinsamkeit ihres Wesens, wie diese Thesen zu zeigen versucht haben. Es ist nicht ganz belanglos, auf solche philosophischen Feinheiten hinzuweisen, denn wenn wir es verlernen, unsere Umwelt und Verhältnisse dialektisch zu sehen und zu beschreiben, geht das wichtigste Gegengewicht, welches dem technischen Machbarkeitsnarzißmus und seiner unter dem Konkurrenzkampf aufgepeitschten Ökonomie manchmal Einhalt gebieten könnte, verloren.

In diesem Sinne nimmt die Veranstaltung einen nicht unwichtigen Bildungsauftrag wahr.

 

23.

Studien wie PISA haben die deutsche Bildungspolitik aufgerüttelt, jedoch die Bemühungen die Jugend fitter zu machen, führen in die gleiche Richtung wie die Zweckforschung, die immer mehr die Grundlagenforschung verdrängt. Eben darum ist es wichtig, mit der Jugend auch auf Ebenen zu kommunizieren, auf denen größere Zusammenhänge sichtbar werden, ohne damit nur zu der resignierenden Einsicht zu kommen, daß an den, vor allem die Jugend frustrierenden Zuständen, sich nichts ändern läßt.

Es sollen Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Schulen genutzt werden. So bietet das Dr.-Wilhelm-André-Gymnasium als musisches Gymnasium in Chemnitz mit seinem speziellen Profil die Voraussetzungen im Rahmen der Kunst- und Musikkurse Projekte zu veranstalten, die die Ausstellung und die sie begleitenden Veranstaltungen thematisieren. Besonders befähigte Schüler können die intensive Auseinandersetzung mit der gezeigten Kunst zum Gegenstand so genannter Besonderer Lernleistungen (BELL) machen und ihre Projekte im Rahmen des Unterrichts an die anderen Schüler vermitteln. Diese tiefgehende Befassung kann von der eigenen künstlerischen Auseinandersetzung mit den gezeigten Werken bis zur kunsttheoretisch-philosophischen Ausleuchtung reichen. Aber auch an anderen Schulen soll diese große Ausstellung zeitgenössischer Malerei ein Schwerpunkt nicht nur im Kunstunterricht werden. Gerade in den sozial benachteiligten Stadtteilen ist es wichtig, Jugendlichen Sichtweisen auf die Welt anzubieten, die sie in ihrem Umfeld normalerweise nicht kennen lernen. Der Versuch ist es wert auch auf diese Weise etwas gegen das frühzeitige Abdriften in soziale und politische Randgruppen zu tun.

Denn das eventuell hervorgebrachte Argument, daß ein solches Anliegen wie es die Ausstellung verfolgt elitär sei, unterschätzt das enorme Ausmaß unbewußter gegenseitiger Erziehung Gleichaltriger.

 

24.

Nicht nur von der Ausstellung und ihrer Haltung geht eine Wirkung aus, sondern auch von der Art wie sie präsentiert wird. Kunst, die in Tempeln als Ikonen oder auf Messen als Waren gezeigt wird, wird verehrt oder bemitleidet, aber selten auf gleicher Augenhöhe wahrgenommen. Eine Ausstellung mit der beabsichtigten Ernsthaftigkeit und dem angestrebten Niveau jedoch in einer alten Fabrik im Zentrum der Stadt zu organisieren, ist auch für die Bevölkerung wie ein lang erwartetes, umfassendes lebendiges Bekenntnis: Nicht eine alte Fabrik allein ist schon ehrwürdig — erst die anspruchsvolle Nutzung gibt ihr Würde. Und es gibt der Stadt, die vom Abriß allerorten (Sonnenberg, Mühlenstraße, Leipziger Straße) bedroht ist, Identität. Und einer Stadt, der in den letzten 20 Jahren 75000 Bewohner den Rücken gekehrt haben, fehlt nichts dringender als Identität. Und es fehlt ihr die Jugend, wenn es vor allem die jungen Leute sind, die gehen.

Gerade ein großes Ausstellungsprojekt, das aus Eigeninitiative heraus entsteht, wirkt authentisch und kommt der Chemnitzer Mentalität entgegen: war es nicht eine Tatsache, »daß die Kunstszene der DDR in den 80′ern aus Chemnitz beachtliche Innovationsschübe erhalten hatte — zumeist von unkonventionell arbeitenden Autodidakten« [B. Weise].

 

25.

Aber nicht nur der Respekt vor alter Bausubstanz kann die Bewohner mit ihrer Stadt verbinden, sondern auch der Ruf, den sie außerhalb aufbaut. Die Größe und Qualität der Ausstellung und die Einmaligkeit der Veranstaltungen am Eröffnungstag dürften eine Attraktivität besitzen, die Interessierte auch aus großer Entfernung anzieht.