FORM-FARBE-GESTE

Eine Annäherung von verschiedenen Seiten aus  

-- Leseprobe --

 

 

Inhalt

1.

Der Expressionismus als Synthese

2.

Der Abstrakte Expressionismus: Freiheit als Doktrin

3.

Die Kunst als Ware, der Mythos als Ware

4.

Pathos oder Apathie (die Provokation im Kunstwerk)

5.

Die sinnliche Wahrnehmbarkeit eines Kunstwerkes und das Importieren von Ideen

6.

Die Bedeutung der Synthese in Kunst, Philosophie und Wissenschaft

6.1.

Das heutige Problem der Synthese

6.2.

Die Schwierigkeit der Synthese

6.3.

Synthese und Verantwortung

6.4

Das Konzept der Synthese in den sinnlich wahrnehmbaren Kunstäußerungen

7.

Kunst - Hydrauliköl der Macht

8.

Erscheinung und Wesen der Informellen Malerei

9.

Synthetischer Expressionismus

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1. Der Expressionismus als Synthese

 

Eine stilistische Ausprägung ist immer verbunden mit einer Spezialisierung, die zunehmend manieristisch wird, ein Prozeß, dessen Sinn sich langsam aushöhlt: hat doch anfangs etwas wesentlich Neues ein neues Erscheinungsbild hervorgebracht, verläuft zunehmend nur noch die Weiterentwicklung der Erscheinung und ihrer Merkmale. Das Wesen bleibt auf der Strecke. Daher kann man jedem manieristischen Stil ein gewisses Maß an Entfremdung (als Kluft zwischen Erscheinung und Wesen) unterstellen. Manche manieristische Stile (Rokoko, Biedermeier, Fotorealismus, viele moderne individuelle Richtungen) sind Einbahnstraßen und Sackgassen zugleich: es führt kein Weg weiter und auch keiner zurück. Bestenfalls aber gelingt es Künstlern noch rechtzeitig von dem manieristischen Weg abzuweichen.

So erscheint Toulouse-Lautrec als »Abweichler« vom Impressionismus, der durch die Betonung der Umrißlinie, durch Ornament, Eleganz und Schwung den Jugendstil vorbereitet hat. Und, ohne daß er zum Jugendstilmaler wurde griff Munch die umfließenden Linien auf, um das Wesentliche zu betonen und wurde zum Wegbereiter des Expressionismus. Gerade auf dem Entwicklungsweg vom Impressionismus zum Expressionismus lässt sich beobachten, wie am Ende eines epochalen Stils der Entwicklungsstrom sich in viele Seitenarme verzweigt, die später wieder zusammenfließen. Selbst einst Vertreter des Impressionismus suchten van Gogh, Gaugin, Cezanne und Toulouse-Lautrec einen Ausweg aus dem impressionistischen Paradigma, welches ihnen zu eng wurde in der Beschränkung auf eine spezifische Maltechnik und ein dominantes Interesse an der Darstellung von Bewegung und Licht. Im Bestreben feste Materie zu malen, kam Cezanne zu einer Vorwegnahme des Kubismus, der über Picasso in den Expressionismus einmündete. Ebenso reichten van Gogh die impressionistischen Tupfen nicht mehr. Seine Pinselstriche wurden kräftig und deren Farbauswahl folgte keiner impressionistischen Idee der Farbmischung im Auge mehr. Sein Aufbruch wurde von den Fauvisten begeistert übernommen, die die direkten Vorläufer des Expressionismus waren. Gaugin kam wieder zu geschlossenen, vielfach monochrom modulierten Formen mit starker Farbigkeit, was eine Verletzung der Hintergrundtiefe zur Folge hatte. Matisse nahm das in radikaler Weise auf: im Bild »Rotes Zimmer (Der Nachtisch - Harmonie in Rot)« ist die Raumtiefe demonstrativ aufgehoben. Auch dies ein wichtiger Vorläufer des Expressionismus. Nimmt man das bereits über Munch Gesagte hinzu, wird sichtbar, daß der Expressionismus von 1909 bis 1930 als eine Synthese vieler Stilübungen aufgefasst werden muß. Die Tatsache, daß es sich um eine echte Synthese und keine eklektizistische Mixtur handelt, sieht man den einzelnen Werken eines Künstlers genau an: sie sind stilistisch homogen, neu und eigenständig.

Betrachtet man den Stil einer Epoche als Konvention, kann diese mehr oder weniger künstlich oder im Gegenteil natürlich sein. Eine künstliche Konvention ist davon geprägt, mehr Energie zur Aufrechterhaltung zu verbrauchen. Speist sich die Konvention aus vielen Quellen und schafft sie es, diese Ergüsse zu fusionieren zu einer bruchlosen Einheit wird sie stabiler, natürlicher, überzeugender und lässt gerade dadurch echter Individualität genügend Raum. Dies kann für den Expressionismus Gültigkeit haben, denn kaum eine Strömung ist so wenig modisch, sondern hat Tiefe und ein gemeinsames menschliches Engagement und das bei so ausgeprägten individuellen Haltungen von Marc und Schmidt-Rottluff über Beckmann bis hin zu Soutine und Hofer.

Diese Auffassung einer gesetzmäßigen ständigen Weiterentwicklung, deren Triebkraft in der Kunst selbst wurzelt, kann über den Zeitraum von der Renaissance bis zum Informel vertreten werden, allerdings nur innerhalb einer dialektischen Sichtweise, die notwendige Vorgriffe und Rückgriffe mit einschließt, ebenso wie die Einsicht, daß jedes neue in sich geschlossene Paradigma auch die Ursache für seine Überwindung von Anbeginn an enthält.

Selbstverständlich kann man der Entwicklung nur eigendynamische Gesetzmäßigkeit zubilligen, solange sie sich in gewisser Freiheit vollziehen kann und davon kann seit 1943 kaum noch eine Rede sein. Der Fakt, daß der Abstrakte Expressionismus fast 30 Jahre weltweit dominierte, kann kunstimmanent nicht erklärt werden, deutet also nicht auf eine besonders stabile Konvention hin, sondern eher auf eine hohe Energiezufuhr.

   

2. Der Abstrakte Expressionismus: Freiheit als Doktrin

 

Ich habe in den letzten 16 Jahren einige auch sehr umfangreiche und gute Bücher über die Kunst des 20. Jh. oder die Entwicklung der Malerei seit dem Klassizismus gelesen. Dabei ist mir in allen Büchern das gleiche Phänomen begegnet, nämlich

   eine äußerst klare und sachliche Anwendung der Sprache, die ansatzweise Merkmale einer wissenschaftlichen Nomenklatur trägt (wenn ich an Begriffe wie »analytischen Kubismus« bzw. »synthetischen Kubismus« denke),

   die Darstellung der Entwicklung der einzelnen Stile nicht im Sinne einer nur chronologischen Abfolge, sondern als stringent kausalen Zusammenhang, (nicht nur als Behauptung, sondern ist nachvollziehbar), also als Zusammenhang, der gegeben ist durch Eigendynamik der Entwicklung der Malerei als auch durch Interaktion mit anderen Gebieten der sich entwickelnden Kultur (Wissenschaften, gesellschaftliches Bewusstsein, technische Funktionalität,)

   und natürlich die Auffassung, daß das Entstehen eines Kunstwerkes einer eigenen Notwendigkeit folgt, eine innere Gesetzmäßigkeit hat, die nicht aus der Psyche der Künstlers resultiert. Der Künstler sei nur Vollstrecker eines einzelnen notwendigen Aktes in einem großen Prozeß und seine Psyche spielte nur insofern eine wesentliche Rolle, daß er derjenige ist — und eine etwas unwesentlichere Rolle in der konkreten Ausformulierung dieses Kunstwerkes.

Ab 1945 endet diese Art der kunstwissenschaftlichen Beschreibung abrupt.  Die Sprache wird unverständlich (wohlgemerkt ein und desselben Autors!), wird pseudointellektuell literarisch, der Versuch stilistische Zusammenhänge aufzubauen, wird gar nicht erst unternommen, die »Entwicklung« wird zu einer Abfolge von Moden, resultierend (angeblich) aus der starken Persönlichkeit und Psyche von Einzelkünstlern (Jackson Pollock, Joseph Beuys, Yves Klein). Somit wandelt sich das, was vor 1945 als gesellschaftliches Produkt aufgefaßt wird, zu einem individualistischen Produkt in heutiger Zeit. Insofern sagt die Literatur nichts Falsches aus; die Beschreibung deckt sich mit der Realität, schlimmer noch sogar: wenn früher die Qualitätseinschätzung eines Künstlers vor allem darin lag, wie stark er andere Künstler durch sein Werk inspirieren konnte, d.h. wie fortsetzungsfähig seine — innovativen — Ideen waren, was wiederum auf den gesellschaftlichen Charakter eines vorhandenen Entwicklungsstromes hinweist, wird heute die Bewertung praktisch nur dadurch vollzogen, wie gut er sich gegen die Massenmedien durchsetzen kann oder vielmehr sich mit ihnen arrangiert, letztlich wie raffiniert er PR- und Marketingstrategien in seinen Dienst stellen kann. Von Inspiration für andere oder gar Fortsetzungsfähigkeit seines Werkes kann keine Rede sein.

Aber das Problem an den besprochenen Büchern ist eben, daß sie genau das nicht — und gleich gar nicht kritisch — erwähnen, sondern lobhudelnderweise schildern was man sieht und nicht erklären. Daß sie in Bezug auf die Wichtigkeit dieser Kunst nach dem 2. Weltkrieg keinen Unterschied machen zur Kunst davor ohne jedoch erklären zu können, worin die Wichtigkeit besteht, außer in dem Fakt der bloßen Existenz und vor allem ist es das Problem, daß sie ihre Inkompetenz oder Komplizenschaft belletristisch ausufernd verschleiern.

Ich, jedenfalls, habe am Anfang verzweifelt versucht zu verstehen, was die da schreiben und die Unfähigkeit auf meiner Seite vermutet, bzw. den Bruch um 1945 dann mir so erklärt, daß zur genaueren Einschätzung der zeitgenössischen Kunst noch nicht ausreichend historische Distanz aufgebaut werden konnte.

Auffällig ist, daß die École de Paris, deren Kunst auch als Informel  bezeichnet wurde, um 1945 in New York School umbenannt, als amerikanische Erfindung hingestellt und deren Produkt mit »Abstract Expressionism« etikettiert wurde. Im Prinzip war es eine ähnliche Malerei nur die Formate waren etwa viermal so groß. Diese Kunst, zu der auch Jackson Pollocks Werk zählt, die — abgesehen von ihrem avantgardistischen Ansatzpunkt, nämlich die Farbe als Materie zu bewerten — sich durch Beliebigkeit auszeichnet, wurde mit gigantischem Aufwand in der westlichen Welt zur Schau gestellt. Offiziell liest sich das heute so: »Der abstrakte Expressionismus war die erste rein amerikanische Stilrichtung der bildenden Kunst. Waren bisher die prägenden Einflüsse von Europa nach Amerika gelangt, so beeinflusste jetzt erstmals Amerika das Kunstgeschehen in Europa.« Encarta Lexikon.

Und ebenso auffällig ist, daß sich fortan eine zweigleisige »Entwicklung« anschloß: auf der einen Seite die Fortdauer der informellen Malerei ohne, daß sie sich weiterentwickelte — außer vielleicht, daß die anfängliche sekundenschnelle Geste langsamer, lyrischer und unentschlossener wurde — bis sie gegen Mitte der 80′er Jahre teilweise von den Jungen Wilden verdrängt wurde, und auf der anderen Seite ein hastiger Wechsel von Arts und Ismen. Zu denen zählt auch die Pop-Art, eine englische Erfindung, durchaus kritisch gemeint, die beinah mit einem gewissen Zynismus die Plastik-Welt lächerlich zu machen versuchte und die dann über den Atlantik wanderte und drüben mit amerikanischer Unschuld pragmatisch Reklame und Comic zur Kunst erklärte.

Um es zusammenzufassen: ich stand also vor dem Rätsel, wieso die kunstbildenden Gesetzmäßigkeiten 1945 ins Stocken geraten waren. Einen ersten Hinweis gab mir Chris Steinbrecher, ein Galerist aus Bremen, im Herbst 1992, der lapidar behauptete, daß der Abstrakte Expressionismus dafür installiert wurde, um den Sozialistischen Realismus zu bekämpfen. Zuerst dachte ich an den Sozialistischen Realismus des Ostblocks und hielt die Behauptung für übertrieben, denn so spürbar stark war der Einfluß ja nun doch nicht auf Sitte, Mattheuer oder Tübke. Aber dann erinnerte ich mich an etliche Hefte der Zeitschrift »Tendenzen«, die ich hatte, in denen einige Artikel auch diese Auffassung vertraten; auch im Hinblick auf die ersten Ausstellungen der documenta in Kassel. Tatsächlich wurde selbst von den Veranstaltern ganz unumwunden geäußert, daß die gegenständliche Kunst dort keinen Platz finden kann: z.B. im Einleitungstext des Kataloges zur documenta II, 1959, geschrieben übrigens von Werner Haftmann, der da betont: »daß Qualität im Kunstwerk nur möglich ist, wenn es unbehindert von außerkünstlerischen Forderungen in Freiheit vollzogen wird, und daß ihm Repräsentanz (dem Kunstwerk in der documenta, T.M.) nur dann zugesprochen werden kann, wenn ihm ... Wirklichkeitsbewältigung (hervorgeh. T.M.) eigentümlich ist. Das bedeutete den Verzicht auf die politisch reglementierte Kunstübung des ,sozialistischen Realismus′. ... Das schloß aber auch jene an sich interessanten Verbindungsversuche zwischen Propagandarealismus und Expressionismus aus.«  Das ist zwar nicht ganz falsch, was er da schreibt, aber das Motiv ist klar: um den soz. Realismus Westeuropas meilenweit zu verdammen, muß gleich die gesamte gegenständliche Kunst, die irgend etwas aussagt, ausgeschlossen werden. Lächerlich dabei ist aber die Behauptung, der soz. Realismus im Westen sei politisch reglementiert. Und weit schlimmer als lächerlich — ja eigentlich schon sich selbst entlarvend — ist die Vorstellung, daß die Beliebigkeit, Anpassung und Aussagelosigkeit darstellende Konfettimalerei von Pollock und anderes Farbgespritze Wirklichkeitsbewältigung ist. Das sagt genügend aus über die Möglichkeit, im kapitalistischen Pluralismus Wirklichkeit zu bewältigen. Doch Haftmann war aber nicht irgendwer, er war ein einflußreicher Kunsttheoretiker der BRD — und des vorangegangenen Reiches. 1934 schrieb er über den Expressionismus, den er damals noch verehrte: » Ihre Fülle der Sendung ist so deutscher Art wie nur etwas ..., Das europäische Bild der Kunst sollte deutsch zentralisiert werden. ... Die politische Form der westlichen Demokratien ist in dem selben Maße fraglich für den Deutschen wie der politische Kollektivismus östlicher Prägung. ... Das Geschick formt sich aus dem Willen des Geistes. Aber hinter dem Geist steht bestimmend die schicksalhafte Sendung, die ihm eingelagert ist vom Blut und vom Raum.« Man kann das verstehen: er wollte mit diesem Vokabular den Expressionismus retten. Dennoch stimmt dieser Wandel bedenklich: spricht sich der für Nation, Blut und Boden und gegen Kollektivismus und Demokratie aus, der später den Begriff von der »Weltsprache der Abstraktion« geprägt hat. In seinem Nachruf schreibt Beaucamp 1999 in der FAZ, daß »der deutsche Evangelist der modernen Kunst ... in ihr ein Allheilmittel sah, das tiefste Offenbarungen, aber auch Versöhnung und Erlösung von geschichtlicher Schuld versprach.« Ob der Abstrakte Expressionismus dieses Verspechen gehalten hat, ist weniger interessant als die Frage, welche geschichtliche Schuld gemeint ist und wessen Schuld. Man kann das psychoanalytisch deuten: ein selektives Verdrängen ist schlecht möglich, mit der Schuld muß auch der Zeuge verschwinden. Die abstrakte Kunst war für Haftmann eine Reinwaschung, ein Neubeginn nach dumpfer Vergangenheit.

 

Weitere Hinweise erhielt ich in den letzten fünf Jahren. Aufmerksam geworden durch einige Kapitel in dem Buch im »Namen des Staates« von Andreas von Bülow, bin ich gezielt auf die Suche gegangen nach der Frage, welche Künstler, Wissenschaftler und Philosophen sich in den Dienst der antikommunistischen amerikanischen Propaganda stellen lassen haben, egal ob bewusst oder unbewusst. Und habe dabei Antworten gefunden selbst auf Fragen, die zu stellen mir nie eingefallen wäre, denn seit einigen Jahren gibt es eine echte Forschung auf dem Gebiet der gezielten Beeinflussung Nachkriegseuropas durch die USA. Und Literatur:

   Serge Guilbault: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg

   Frances Stonor Saunders: Wer die Zeche zahlt... Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg.

   Reinhard Müller-Mehlis: Des Kaisers neue Kleider. Der Schwindel der Moderne

   Richard Kohler: Mafia, Geheimdienste und Politik der USA

   Reinhold Wagnleitner: Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem zweiten Weltkrieg.

Schon während des Krieges arbeitete die Abteilung für psychologische Kriegsführung der US-Armee Pläne aus, wie man über den kulturellen Sektor Einfluß auf die Bevölkerung der Gegner ausüben und Werbung für die eigene Sache machen könnte, auch zur Mobilisierung der eigenen Kräfte. Hauptsächlichste Waffe war das Wort Freiheit. Mit der Zurschaustellung der eigenen Freiheit konnte man die Unmündigkeit der Massen in den Diktaturen am einfachsten lächerlich machen. Obwohl das vordergründig gegen Deutschland aufgefahren wurde, war es genauso gegen die UdSSR konzipiert. Denn es wurde versucht, die Kluft, die sich auftat zwischen Sozialisten und dem Bolschewismus auszuweiten. Trotzkisten, Linke Anarchisten, Künstler und Wissenschaftler, die entweder aus der UdSSR oder vor Franco aus Spanien nach Mexiko oder in die USA geflüchtet waren, die ja noch an einen eigenständigen Weg zum Sozialismus glaubten, jenseits der UdSSR, sollten auf die freiheitliche amerikanische Seite gebracht, zu Feinden des Stalinismus und letztendlich zu Antikommunisten erzogen werden. Nach dem Krieg wurden diese Aktivitäten naht- und hemmungslos fortgesetzt, nunmehr durch die CIA  im Hintergrund — im Vordergrund agierten fast 100 gemeinnützige Organisationen oder Stiftungen, ja sogar Museen, die eigens für diesen Zweck in den USA und europaweit gegründet wurden. Manche existierten auch schon vorher, ließen sich bereitwillig benutzen, betrieben Geldwäsche, indem sie CIA-Gelder an weitere Stiftungen stifteten und dabei ihren guten Ruf auf Hochglanz polierten (Ford foundation). Ein wichtiges Instrument dieser »covered operations« war der in Berlin von mehreren CIA-Männern (Michael Josselson, Melvin Lasky, Tom Braden) gegründete Kongress für kulturelle Freiheit, der bis 1967 arbeitete.

Arthur Koestler war mit dabei, George Orwell, Willy Brandt, Robert Oppenheimer, Hannah Arend (als Totalitarismusspezialistin), Bertrand Russell war Ehrenpräsident ... - sie alle wussten, daß sie von der CIA bezahlt wurden. Manche, die mitmachten und in den Zeitschriften des Kongresses Artikel veröffentlichten wie  André Gide, Golo Mann, ja auch Albert Camus waren vielleicht nicht im Bilde. Doch man hätte es wissen können: Sartre und Simone de Beauvoir haben den Kongreß hart kritisiert (und dabei Freunde verloren).

Es gab einen Namen für diesen fanatischen antikommunistischen Kulturangriff: »operation mockingbird«; der Operationsplan für Deutschland hatte den Decknamen »pocket book«. Im Prinzip ging es darum, Kunstereignisse stattfinden zu lassen, Preisverleihungen, Ausstellungen, Konzerte, Veröffentlichungen, die allesamt im Zeichen der Freiheit standen und den »Kunstdogmatismus« im sozialistischen Lager lächerlich machen sollten und natürlich auch, um Stalin zu verletzen, wenn seine ehemaligen Landsleute in Amerika weltberühmt werden: Strawinsky, Alexander Archipenko, Markus Rothkowitsch, Chagall ... und natürlich ging es auch darum, den militärisch nun zur führenden Weltmacht aufgerückten USA ebenfalls die kulturelle Hegemonie zu sichern.

In der Malerei spielte der Abstrakte Expressionismus die entscheidende Rolle. Jackson Pollock wurde zum wichtigsten Maler der Welt bestimmt und Picasso vom Sockel gestoßen (er war ja immer gegenständlich geblieben und außerdem Kommunist).

»Die abstrakte Kunst ... erreichte in den 50er Jahren ihre Alleinherrschaft, wurde sie doch zunehmend als Inbegriff der Demokratie und als Zeichen der Westintegration ideologisiert und auch politisch unterstützt. Im Besonderen zeigte sich dies in der Förderung abstrakter Kunst durch die CIA, welche die ersten europäischen Ausstellungen der »Abstrakten Expressionisten« mehr als offensichtlich als Zeichen der westlichen Freiheit wider die östliche Unfreiheit finanzierte.

Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20.Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001; S189«

Es folgten etwa 20 Jahre, die von einem fieberhaften Eifer gekennzeichnet waren, bei dem vor allem erstaunlich ist, daß unterschiedlichste Kreise: extrem Konservative aus Geheimdiensten, Militär und Finanzoligarchie - antibolschewistische Linke - ehrgeizige Philosophen, Künstler und Wissenschaftler - gescheiterte Existenzen und resignierte ehemalige Humanisten, die wieder mal etwas Schwung brauchten, einen Kampf führten, der sie einte, obwohl jeder ein anderes aber eben sein spezifisches Interesse an der Sache hatte. Will man es zusammenfassen, gegen was sie kämpften, trifft das Wort Bevormundung vielleicht am besten. (Wenn jemand als Erwachsener verbissen gegen Bevormundung - die ihn gar nicht trifft - kämpft, sind negative Kindheitserinnerungen nicht auszuschließen). So irrational motiviert dieser Kampf auch war, wurde er durch die große gemeinsame Rationalisierung, daß sie es als ureigenste Privatangelegenheit empfanden, die kommunistische Gefahr einzudämmen, geeint.

Wobei man einräumen muß, daß auch ein Großteil der Kampfesenergie investiert werden mußte, um diejenigen der eher dem altmodischen amerikanischen Kitsch zugeneigten Regierungsmitglieder zu überzeugen, denn von dieser Seite erfolgten scharfe Attacken gegen die neue Kunst. Schwer zu klären ist die Frage, wofür sie eigentlich kämpften. Ich habe etliche Artikel, Briefe und Statements gelesen, in denen die Verfasser vehement bekundeten, für die Freiheit zu kämpfen, aber aus keinem einzigen war ersichtlich, worin die Freiheit bestehen soll. Außer in der Meinungsfreiheit. Doch da diese Artikel alle nicht nur systemkonform waren, sondern eigeninitiatorisch danach trachteten sogar Staatsdoktrin zu übertreffen, kann man nicht mal deren Veröffentlichungen als Meinungsfreiheit ansehen. Man muß sich auch nicht unbedingt fragen, wofür man kämpft, wenn die Sache läuft und unbewußt oder bewußt profitierten alle derart davon, daß wir nicht noch zugespitzt fragen müssen:

waren die Künstler so clever, sich von den Geheimdiensten finanzieren und dabei auch noch berühmt machen zu lassen oder war die CIA so clever, die Künstler zu missbrauchen?

 

Das eigentlich grausige Resultat an der ganzen Geschichte jahrzehntelanger Manipulation der Kunst, die ebenso im Ostblock erfolgte — wenn auch anders, ist, daß heute kaum noch einer davon ausgeht, daß sich Kunst gesetzmäßig entwickelt.

 

Es war wahrscheinlich schon immer so, daß die meisten Menschen sich nicht darum gekümmert haben, was Kunst ist; für sie war Kunst Geschmackssache, ohne daß sie sich dabei Klarheit verschaffen wollten, wodurch ihr Geschmack geformt wurde. Aber das hat sich auf den Kunstbegriff kaum ausgewirkt, da es vielmehr die Liebhaber und Mäzene waren, die durch ihre Kaufkraft selektierten. Dabei sollte das Gekaufte langanhaltenden oder sich sogar steigernden Wert besitzen, so daß der erfolgreiche Käufer von damals kunstwissenschaftliches Verständnis brauchte, um Werke für die Zukunft zu entdecken. Er war nicht so narzißtisch, vielleicht auch nicht so kapitalistisch durchtrainiert, daß er annahm, nur weil er in eine bestimmte Kunstrichtung investierte, würde diese in die Geschichte eingehen. Es bedarf schon eines übersteigerten Machtgefühls, dies zu glauben, und doch sieht der erfolgreiche Käufer von heute eher darin seinen Weg, die gekauften Werke durch Popularisierung aufzuwerten. »Investoren verdrängen die Liebhaber« lautet die Überschrift einer Analyse der Zeitschrift ART 1989 und beschreibt »den neuen Typ des systematisch investierenden Käufers, der von Malerei keine Ahnung hat, der nicht die Farbe auf der Leinwand in Augenschein nimmt, sondern die Liste früherer Ausstellungen und Reproduktionen«.

 

Doch wenn sich Kunst nicht mehr gesetzmäßig entwickeln soll, was glaubt man heute dann unter Kunst zu verstehen? Der im allgemeinen nicht so drastisch ausgesprochene Konsens ist doch, daß Kunst die Fähigkeit eines Menschen ist, seine Seelenexkremente so zu formulieren, daß sie Logo-Qualität erreichen, also reproduzierbar und als die seinen erkennbar sind, damit der davon Angesprochene im Akt des Erwerbes ein Bekenntnis, welches ihm Identität sichert, ablegen kann wobei er glaubt, das Kaufobjekt bringe Rendite, vor allem, wenn man die dem Verkauf vorangegangene Zeremonie in die Medien tragen kann, was den Wert des Objektes und seines Produzenten und manchmal auch des Erwerbers hebt und dem Journalisten die Möglichkeit verschafft, seine schriftstellerischen Qualitäten unter Beweis zu stellen.

Ich will damit nicht in Abrede stellen, daß gute Kunst oft aus der Situation von Bedrängnis und Spannung entstanden ist; das heißt aber nicht, daß Kunst die Unterdrückung braucht, sie war vielleicht nur das einzige humanistische Mittel, welches sich zur Wehr zu setzen wagte und uns deswegen überliefert ist. Und es ist überhaupt der Unterschied, wenn Kunst schon aus der gequälten Seele quillt, ob sie motiviert ist sich zu wehren oder höchstens Mitleid erregt.

 

 

3. Die Kunst als Ware, der Mythos als Ware

 

Im Ausstellungskatalog »Positionen, Malerei aus der BRD« 1986, S. 14, liest man über Willi Baumeister und Ernst Wilhelm Nay: »Doch auch das bleibt festzuhalten: Nach Auschwitz, so hatte Adorno erklärt, könne man keine Gedichte mehr schreiben. Diese Generation von Künstlern hatte jedoch den Glauben an die Kunst nicht verloren, ja erachteten in ihr noch immer eine überpersönliche Instanz, der der Maler gleichermaßen wie der Betrachter zu dienen habe.« Jedoch »Die Nachkriegsgeneration verlor den Boden unter den Füßen, da selbst die Konventionen, denen die heroische Generation der Avantgarde ihren Protest noch dialektisch vermitteln konnten, zerstört waren. In der Brechung war die Geschichte und die Geschichte der Kunst wahrzunehmen und nur in der Zerstörung der Vorbilder war es möglich, in den Bruchstücken das Verlorene zu evozieren.« Siegfried Gohr, in Kunst und Kirche, 3/89, Positionen deutscher Malerei. Das heißt, der Faschismus hat den Idealismus nicht so effizient zerschlagen wie die auf ihn folgende Freiheit und Freie Marktwirtschaft. Mit der Abkehr von diesem Idealismus vollzieht sich auch ein radikaler Individualismus, der die Unsicherheit und Isolation, mit denen Künstler ohnehin geschlagen sind, wesentlich verstärkt.

Nachdem die spontane Kunstentwicklung durch die faschistischen Propagandamaßnahmen, durch die Formalismusdebatte im Sozialismus und die amerikanische Einflussnahme auf das Nachkriegseuropa bis aufs Äußerste deformiert wurde, ist die wissenschaftlich-analytische Kunstbetrachtung eher einer journalistischen gewichen.

Man hat sich daran gewöhnt, es ist auch gleichgültig, was der Künstler darüber denkt, was Kunst sei, er wird das produzieren, was der Markt ihm vorschreibt. Aber die Verhältnisse sind hier nicht ganz so einfach wie beim Brotverkauf. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden Kunstwerke auch geschaffen und verkauft. Aber danach ist die marktorientierte Rückkopplung so weit fortgeschritten, daß Kunstwerke nicht nur gemacht werden um sie zu verkaufen, sondern daß das gemacht wird, was verkäuflich ist, daß der Künstler, diese Verhältnisse verdeckend, glaubt, was er schaffe entspräche seinem individuellen künstlerischen Credo. Weil die Konvention aber diejenige ist, daß etwas Neues, was unbewusst bereits erwartet wird, höher zu bewerten ist, setzt die gleiche Dynamik ein wie bei Mode und Modemachern. Die verzweifelte Frage des Künstlers wird sein: Was kann ich machen, was zwar im Trend liegt, ihn aber auch soweit verlässt, damit es Aufsehen erregt? Unter diesem Diktat des Individualismus kann der Künstler kaum noch individuell fühlen, geschweige denn produzieren. Da die Kunstproduktion ihrer Natur gemäß deutlich immaterieller ist als die von Brot oder Zement, und der Bedarf meist künstlich geweckt werden muß, ist nicht nur ihr Wert, sondern auch der Sinn ihrer Herstellung fiktiv. In dem Maße wie dieser Herstellungsprozeß irrationaler wird, müssen der Künstler und der Kunsthandel ihr Anliegen ideologisch rechtfertigen. Diese Rationalisierungsstrategien, die als Anliegen der Künstler und als Sinn der Kunst über die Massenmedien verbreitet werden, sind ebenso der Dialektik der Mode unterworfen und führen letztlich zu einer weiteren Desorientierung und damit wiederum weiterer Manipulierbarkeit des Kunstbegriffes.

Wenn man heute schon von einer Säkularisierung der Information spricht, bei der die Information von ihrer ideologischen Instrumentalisierung befreit wird, aber nicht Wahrheitsgehalt und Wichtigkeit ihre Verbreitung bestimmen sondern Verkäuflichkeit unter dem Konkurrenzdruck, dann kann mit vollem Recht ebenso von einer Säkularisierung der Kunst gesprochen werden. Damit ist die Kunst endlich so frei eine Ware zu sein. Frei wie der zum Tagelöhner entlassene Leibeigene. Nur der Künstler hat es nicht gleich begriffen, noch hat er sich dafür geschämt auf den Markt zu schielen, Reklame für sich zu machen und verkäuflich zu sein, denn ethische Werte bauen sich nicht gleich ab, sie werden noch ein paar Generationen weitergegeben. Erst die heutige junge Generation ist frei von Skrupeln und kann sich ohne Rechtfertigungsdruck dem Markt widmen; der Bruch ist vollzogen: der Idealismus ist nunmehr als sinnloses Pathos disqualifiziert. Die Kunst hat sich von dem Hauptanliegen, der Schilderung von Wahrheiten, Hoffnungen, Kritik oder einer ästhetischen Maxime verabschiedet. Sie ist pragmatisch geworden ohne praktisch zu sein. Mit letzterem soll behauptet werden, daß weder die Produktion die Distribution noch die Konsumtion die Kunst als Selbstzweck hat. Sie ist in mehrfacher Hinsicht unpraktisch: der Künstler schafft was der Markt fordert, (sollte er den weitverbreiteten Glauben haben er male als Therapie ist sie ebenso unpraktisch: sein Problem wird bestehen bleiben), der Galerist verkauft was er verkaufen kann und der Konsument ist im selteneren Fall jemand, der sich ein Bild über das Sofa hängt weil es ihn erfreut sondern vielmehr einer der das Kunstwerk als Werbeträger braucht. Sein Erwerbszweck ist nicht das Kunstwerk selbst sondern die Profitmaximierung der Firma und für diesen Zweck spielt das Kunstwerk nur insofern eine Rolle, daß es im Bewusstsein einen Wert verkörpert, er kauft also mehr ein Stück Ruf des Künstlers als das Werk. Diese Logik ist längst beim Künstler angekommen und er weiß, daß er nicht vorrangig in den Ausbau seiner Fähigkeiten und seiner technischen Möglichkeiten investieren muß, um erweitert zu reproduzieren, sondern sein Kapital ist sein Ruf. Aber sein Ruf ist nicht nur seine Berühmtheit sondern auch seine Berüchtigtheit, seine Auffälligkeit, die Besonderheit seiner Lebensgeschichte, die Gigantomanie seiner Projekte, die mehr Gesprächsstoff liefert — kurz: sein Mythos den es ihm zu verbreiten gelingt.

Wenn ich anfangs sagte, daß die Verhältnisse hier anders sind als beim Brot meinte ich Brot im Sinne eines reinen Nahrungsmittels,  welches gebraucht wird mit oder ohne Mythos. Aber auch hier erzeugt die Effektivierung der Produktion eine Überproduktion und der Verkäufer muß dem Kunden klarmachen warum er genau dieses Nahrungsmittel kaufen soll, es muß sich auszeichnen gegenüber einem normalen. So wird es esoterisch angereichert und die Folge ist eine zunehmende Verblödung: brauner Kristallzucker ist Natur, weißer ist Chemie, aber Honig ist überhaupt ein Wundermittel — womit wir wieder zurück bei Beuys sind.

---> Mythos (Text kommt noch)

   

4. Pathos oder Apathie (die Provokation im Kunstwerk)

 

Es ist eine alte Erkenntnis, daß immer die jeweils neue Kunst provoziert hat. Ja es lässt einem das Herz höher hupfen, wenn man sich vorstellt, daß die aufgebrachten Besucher der ersten Impressionisten-Ausstellung 1874 im Salon eines Photographen versuchten, die Bilder mit ihren Regenschirmen zu zerstören. Waren die Wörter »Impressionisten« und noch  »Fauvisten« von Gegnern zur Beschimpfung erfunden und der provozierende Gehalt der Kunstwerke eine Begleiterscheinung des Neuen, setzten die Expressionisten die Provokation bereits gezielt ein. Die Kunstwelt hatte sich schon daran gewöhnt, Neues zu fordern; die von Beginn an hohen Preise der »Brücke« zeugten davon, daß sie sich bewusst waren, welche Rolle sie spielen. Heute ist es zum absoluten Dogma geworden, daß ein Kunstwerk was nicht als kitschig abqualifiziert werden will, sich provokativ gebärden muß. Doch was ist heute noch provokativ?

Man kann die Wände einer Galerie mit Blut und Sperma beschmieren, sich die Haare ausraufen und draufkleben, das Publikum und die Medien werden reagieren wie im Kunsthaus Müller in Irenusz Iredynskis »Manipulation« oder aber mit der typisch gedämpften Anerkennung: irgendwie interessant, es hat was.

Selbst Hermann Nitsch provoziert nur noch die Kirche, Rechtsradikale oder Tierschützer.

Und dennoch zeigen sich manchmal der Kunstbetrieb und die Medien auf eine Weise, die nahe legt, daß sie provoziert, daß sie in ihrer routinierten Apathie gestört wurden: durch Pathos. Denn das ist noch nach wie vor angsteinflößend: ein Bekenntnis zum Leben, zur Nächstenliebe, zur Zukunft in der vieles besser wäre als heute, zur Wahrheit, zum Glauben daß der Mensch die Entfremdung überwindet, eins wird mit sich, mit anderen und mit der Natur — eben Einheit herstellt mit dem Universum ohne Religionen; man wendet sich gewöhnlich peinlich berührt ab.

Auch hier haben die abstrakte und besonders die informelle Kunst Dienste geleistet, dem Ideologen Argumente gegen das Pathos zu liefern. G.-W. Kölzsch schreibt im Katalog »Positionen« wie W. Baumeisters Buch »Das Unbekannte in der Kunst« die junge Nachkriegsgeneration ermutigt hat. »Und sie bedurften dieser Ermutigung, denn ihr Weg führte sie mit nahezu unausweichlicher Notwendigkeit in die ungeebnete, aber auch nicht vorbelastete ungegenständliche Bilderwelt, da die gegenständliche Kunst sich in ihren Augen offensichtlich so leicht an die Macht hatte verkaufen und als Sprachrohr pervertierter Ideale missbrauchen lassen.«

Woher auch immer diese unausweichliche Notwendigkeit kam und welche gegenständliche Kunst außer die der Nazis sich an die Macht verkaufen lassen hat und wieso die ungegenständliche davor mehr gefeit sein sollte bleibt unklar aber sicher ist, daß solche Sätze politisches Wunschdenken transportieren. Das Pathos im gesellschaftlichen Ziel war im Osten, der Westen hatte es eher mit der Technik. Tja, Pathos oder Apathie. Die Argumentation gegen Konzepte und Pathos als Folge des Argwohns gegen Konzepte wegen derer allzu häufiger Benutzung als Rationalisierung ist selbst wiederum eine Rationalisierung: nämlich die Rationalisierung der aus Konzeptlosigkeit resultierenden Anpassung. Ich denke, daß heute in der Wegwerfgesellschaft gerade das Pathos provozierend ist. Der angepasste Intellektuelle, der lächelnde Skeptiker — abgeklärt, snobistisch, pluralistisch oder nihilistisch — der mit weisem Grinsen dem kindlich-naivem Pathos, da es ihn ängstigt, wenn es authentisch ist, feindlich gegenübersteht, der aufgrund seines Skeptizismus′ keinen festen Boden findet und so ihm nur die Anpassung bleibt, fühlt sich provoziert durch das Gute und verurteilt das Pathos als kitschig, plump, vordergründig und als angepasst. In diesem Urteil aber liegt wohlkalkulierte Aggression, die mit freundlicher Oberflächenspannung gemeistert wird, denn er muß cool bleiben, damit der Mechanismus sich rationalisierender Anpassung ohne Unwucht läuft. Wenn er Erregung zeigt, ist sein Provoziertsein eingestanden. Er ist doch selbst — glaubt er — der Provozierende und provoziert werden gewöhnlich kleinbürgerliche Spießer. Beherrscht bleibend zeigt er sich als Fachmann, der das Pathos zerschlägt. Das ist wirkungsvoller.

Wenn du ihm das zu erklären versuchst, hat er Mitleid mit dir.

 

Dabei lohnt es sich, wenn man schon von Intellektuellen redet, sie in moderne und postmoderne zu unterscheiden.

Die Art, wie der moderne Intellektuelle — um zwei Beispiele zu nennen: »Die Welt als Phantom und Matrize« von Günther Anders in »Die Antiquiertheit des Menschen« und »Kulturindustrie« von Horkheimer und Adorno in »Dialektik der Aufklärung« — es lohnt hier nicht ein Wort oder einen Satz zu zitieren, die Texte sind insgesamt zu brillant — sich äußert, nämlich in einem ergrimmten Pathos, in einem derartigen Betroffensein, lässt das Ausmaß ahnen, welches Leid es bereitet, das Leben zu lieben.

Gerade diese Doppelbedeutung von Leben und Leiden drückt kein Wort besser aus als Pathos. (Und wenn man es mit anderen teilt: Sympathie und sympathy.)

Obwohl der postmoderne Intellektuelle die Event-Kultur (von Pop bis Karneval) als Massenkultur, kitschig, unverhüllt kommerziell und geistig primitiv verachtet, liebäugelt er mit einem Ausflug dorthin. Ja, er besteht sogar darauf, sie zu tolerieren als ein Terrain zum lustvoll-lasziven Fremdgehen, was mit dem Nachhausekommenmüssen versöhnt und ihm sein Zuhause in distinguierte  Höhe hebt. So ist er im allgemeinen außerhalb und manchmal mit von der fröhlichen Partie, aber nie betroffen. Wenn er mit Leben und Leid konfrontiert wird, mit sich aufbäumenden Pathos, will er sich ins Betroffensein um keinen Preis hineinziehen lassen und reagiert mit genervtem Widerwillen, mit lächelnder Überheblichkeit oder mit sachlichen Rationalisierungen. Ob er nicht sogar die Event-Kultur als Keule gegen Pathos und Betroffenheit instrumentalisiert? Gut, lassen wir das Pathos und hoffen auf den Tag, an dem selbst wir über solche Abhandlungen nur noch sagen können: »welch überflüssiges Pathos«.  

 

5. Die sinnliche Wahrnehmbarkeit eines Kunstwerkes und das Importieren von Ideen

 

Unterscheiden wir zwischen zwei Arten von Intellektualität im Kunstwerk, die auch zugleich auftreten können, haben wir es im ersten Fall mit einem Werk zu tun, dessen Idee wir wahrnehmen können — im Beispiel der Malerei sehen können — und im zweiten Fall mit einer Idee zu tun, die wir wissen müssen, da sie als Information in das Kunstwerk importiert wurde, die sich uns manchmal erst über den Titel erschließt.

Zum ersten Fall gehören alle formalistischen Ideen zu deren Verstehen oder Wertschätzung wir lediglich das Erschaffungsdatum wissen müssen. Und es gehört auch der psychisch-expressive Ausdruck des Werkes hier hinein, der in der Malerei über Formen und Farben und in der Musik über den dramatischen Aufbau von Lautstärke, Rhythmus, Dissonanz und Harmonie, also direkt und unbewusst auf den Rezipienten einwirkt, Emotionen auslösend. Schon metaphorische Inhalte gehören nicht in diese Kategorie, da Gleichnisse Kenntnisse voraussetzen und über ganz andere Kanäle wahrgenommen werden oder eben überhaupt nicht wirken, falls die Metapher nicht entschlüsselt werden kann.

Als ein Beispiel für eine formalistische Idee soll ausgerechnet van Gogh dienen, von dem doch die meisten annehmen, er hätte voll aus dem Gefühl heraus gemalt. Am 30. Juni 1888 schriebt er über ein vollendetes Bild: »aber mit der Wahrheit der Farbe habe ich es nicht so genau genommen.« Bis zum 11. August 1888 berührt er in Briefen das Thema immer wieder und schreibt an jenem Tage an seinen Bruder Theo: »Ich werde jetzt der eigenmächtige Kolorist sein.« Hiermit ist seine Entscheidung gefallen nicht mehr der Natur zu gehorchen sondern den ästhetischen Gesetzen zum Erreichen einer bestimmten Wirkung, was nicht heißen muß, daß er selbst alles durchschaut hat. Im November 1888 folgt das Bild »Die roten Weingärten«. Die Farben weichen vom Naturvorbild ab und sind durchaus intellektuell gesetzt. Vom Vordergrund erfolgt eine Steigerung der Farbe von blauviolett über weinrot, rotorange bis zum gelborange am Ende der Weingärten, die dort wie Kornfelder aussehen. Die Baumreihe, die links und dahinter verläuft, ist nicht grün sondern blau, was die Strahlkraft der Felder erhöht.

Des Bemerkens wert ist hierbei die Tatsache, daß van Gogh — auf der Suche nach der psychisch-expressiven Steigerung der Farbe — zu einer formalistischen Neuerung kam: die Lokalfarben in der Natur dürfen zugunsten kompositorischer Erwägungen ignoriert werden. In solcher Radikalität hatte das keiner zuvor getan. Es tritt in der Kunst, aber auch in Wissenschaft und Technik immer wieder auf, daß auf der Suche nach einer Lösung für ein konkretes Problem ein allgemeines Gesetz entdeckt wird, welches viel höheren Stellenwert hat als die gesuchte Lösung. Analog dazu ist kaum annehmbar, daß Kandinsky zielgerichtet die abstrakte Malerei erfinden wollte. Das Bild »Der Elefant« von 1908 ist bereits ein erstaunlich abstraktes Bild, kaum naturalistischer als »Die Kuh« von 1911. Daß Kandinsky seine Entdeckung der abstrakten Malerei erst später bewusst geworden ist, legt die nachträgliche Bezeichnung »Erstes abstraktes Aquarell« für das Bild »ohne Titel« von 1910 nahe. Einiges spricht dafür, daß das Bild erst 1913 gemalt und vordatiert wurde. Wie dem auch sei, wir haben es trotzdem mit einer hervorragenden formalistischen Idee zu tun, die die künstlerischen Mittel von der Notwendigkeit befreit hat, irgendwelche Sachverhalte zu illustrieren. Aber noch stand die Befreiung der Malmaterie selbst bevor. Bereits seit 1924 schuf Andre Masson, einer der Begründer des Surrealismus, unter tranceartigen Zuständen seine automatischen Zeichnungen. Es war die Umsetzung der von Andre Breton geforderten Niederschrift unbewusster Regungen. Um die Krise des Surrealismus — dem, insbesondere bei Dali, Unglaubwürdigkeit und Missbrauch der Idee vorgeworfen wurde — zu umgehen, und inzwischen vom Diktat der gegenständlichen Darstellung befreit, wurden ab 1945 in schneller und dadurch unkontrollierter Geste von Malern wie Wols, Jean Fautrier, Hans Hartung oder Georges Mathieu Bilder gemalt, die nur einer spontanen Eingebung folgten. Die Technik des Farbauftrags wurde zur formbestimmenden Größe, d.h. die Form als solche wurde aufgelöst. Nehmen wir noch den am Anfang des Textes erwähnten Sachverhalt über Matisse′ Bild »Das rote Zimmer« hinzu, bieten sich uns vier Beispiele formalistischer Ideen. Diese sind als Ideen natürlich nur in ihrem kunstgeschichtlichen Kontext begreifbar.

 

Als ein großartiges Beispiel einer psychisch-expressiven Malerei kann Noldes Bild »Die Kerzentänzerinnen« von 1912 dienen. Die Farben selbst, deren Beziehungen untereinander, die Formen und Linien, deren Rhythmus und perspektivische Anordnung und natürlich der figurative Inhalt: die Haltung und Verzerrung der Gliedmaßen, der Ausdruck von Augen und Mund und der Bezug zu den Kerzen, die jede nichtsachliche Stimmung von stiller Andacht bis Brandgefahr (und im Bild riecht man schon fast den Geruch versengter Röckchen) offen lassen — also gerade keinen Halt geben — das alles steigert sich zu der wilden Extase, die des Bildes Inhalt ist. Um den zu verstehen, bedarf es keiner Kenntnis irgendwelcher Mythologien oder anderer Interpretationskonventionen. Man muß es schon als eine Stärke des Bildes sehen, daß es sich nicht durch den Import eines bereits reichen und anerkannten Stoffes aufzuwerten versucht.

 

Als zweiten Fall der Intellektualität im Kunstwerk hatten wir Werke eingeteilt, deren Idee nicht kunstimmanent ist, die nicht gesehen werden kann sondern als Information einfließt und deswegen gewusst oder entschlüsselt werden muß. Hierzu zählen der Gebrauch von Gleichnissen aus der Mythologie, Symbolen oder zu Symbolen gewordener Gebrauchsartikel oder Persönlichkeiten, geschichtlichem Stoff und anderem.

Bevor wir uns solchen Werken widmen, die sich ausschließlich aus diesen Quellen speisen, muß darauf verwiesen werden, daß ein großer Teil aller Kunstwerke beide Arten der Intellektualität aufweist. Bilder deren Inhalte sowohl von erzählerischen als auch formalistischen und darüber hinaus psychisch-expressiven Ideen bestimmt werden, sind z.B. Francisco de Goyas Werke »Der 2. Mai (Angriff der Mamelucken)« (1814) und »Erschießung der Aufständischen« (1814) oder Eugene Delacroix′ »Das Massaker von Chios« (1824) und »Die Freiheit führt das Volk« (1830). Der Einsatz der künstlerischen Mittel zur Dramatisierung des Geschehens und die damit hervorgerufene Leidenschaftlichkeit der Stellungnahme für den Befreiungskampf brechen deutlich mit der starren Ausbalanciertheit des Klassizismus.

Auch hier zeigt sich wieder, wie im Bemühen um einen bestimmten Ausdruck, formalistische Fragen gelöst werden, die eine neue stilistische Epoche begründen. Obwohl durch die psychisch-expressiven Mittel der Betrachter gewissermaßen an den Arm genommen und in das Bild eingeführt wird, bedarf es zum vollständigen Verständnis der Kenntnis der konkreten geschichtlichen Vorgänge. Das können wir an dem Bild »Der Brand des Parlamentes« (1834) von William Turner exerzieren. Auch dieses Gemälde, noch im Geist der Romantik entstanden, aber im Farbauftrag, in der Darstellung von Licht und atmosphärischem Äther die Romantik bereits überwindend und den Impressionismus vorbereitend, hat neben der darin begründeten formalistischen Idee eine erzählerische Idee. Doch kann deren Interpretation recht unterschiedlich ausfallen: glaubt man, das Feuer sei von Englands Feinden gelegt, bekäme das Bid einen patriotischen Charakter, kennt man die Ursache des Brandes (das Entwerten der Kerbhölzer durch Verbrennen im Hof des Parlamentes) kann dem Bild ein ironischer Unterton abgewonnen werden, hätte das Parlament nie gebrannt, wäre es geistige Brandstiftung des Künstlers.

Immer wieder zählt es zu den Beliebtheiten bei Künstlern sich des Stoffes der griechischen Mythologie oder der Bibel zu bedienen. In Zeiten eingeschränkter Artikulationsfreiheit kann das ein probates Mittel sein, um kritische Äußerungen an der Zensur vorbeizumogeln (Stefan Heym »Der König David Bericht«). Große Kunstwerke entstehen auch, wenn der ursprüngliche mythologische Stoff durch den Bezug zu einem zeitgenössischen Kontext bereichert oder ihm dadurch sogar erst philosophische Tiefe verliehen wird (J.-P. Sartre »Die Fliegen«). Andererseits wird sich dieses inhaltlichen Stoffes in der Kunst auch oft nur bedient, um einen Inhalt zu finden oder das eigene Kunstwerk aufzuwerten, wobei es dann zur entscheidenden Frage wird, wieviel das Werk an kunstimmanentem Gehalt bietet.

Wenden wir uns nun den Werken zu, die entweder durch einen Mangel an kunstimmanentem Gehalt oder durch ein enormes Übergewicht an narrativen und symbolischen Verweisen, signalisieren, daß wir darauf zurückgeworfen sind, uns nachdenkend einen Zugang zu verschaffen. Fast überall stolpert man heute über Dankanstöße, so als würde der Teil der Bevölkerung, der sich moderner Kunst aussetzt, ansonsten nicht denken; doch denkt man, die Gebrauchsanweisung ignorierend, auf seine eigene Weise das eine oder andere stringent bis zum Ende, kommt man zu Erkenntnissen, die nicht selten den »Sinn« des Kunstwerkes konterkarieren. Egal ob es sich um die figürliche Darstellung handelt (eigentümliche Vertreter der Menschheit in rätselhaften Konstellationen wie bei Neo Rauch), um die nachdrückliche Verwendung mystischer Symbole und bedeutungsschwerer Materialien (Anselm Kiefer) oder um den Gebrauch sprachlicher Begriffe aus Philosophie oder Psychologie (»Karten der Psyche« bei Klaus Sobolewski), der Betrachter fühlt sich unter Druck gesetzt, etwas herauszufinden. Was er aber herausfindet — insbesondere bei dem riesigen Heer der Imitatoren, die sich nicht einmal die Mühe machen in der Mythologie und Mystik herumzukramen, sondern nur die Zeichen nachäffen — ist, daß er, der Betrachter, sich des Eindruckes nicht erwehren kann, daß der Künstler sich unbekümmert auf die Treffsicherheit seiner unbewussten Eingaben verlässt, in der Hoffnung, daß der Betrachter oder ein berufener Kritiker herausfindet, was dem Künstler bisher verborgen blieb. Es ist also bewusst offengelassen, wie es so oft geschrieben steht. Das heißt aber, daß gerade hiermit ein Aufschrei verbunden ist: würde der Künstler etwas Kluges äußern, wäre es nur auf die Klugheit zurückzuführen, daß man der Äußerung Beachtung schenkt, aber kann er es durchsetzen, daß man sein infantiles Gekrakel wahrnimmt, tritt er für sich den Beweis an, daß man ihm in seiner einfachen Existenz als Menschenkind Beachtung schenkt. Das Publikum, als Therapeut allerdings überfordert, hält es da lieber mit Beuys und greift zum Pinsel: das kann ich auch.

 

Auch wenn manche Konzept-Kunst hochmotiviert ist, hat sie, falls es dem Konzept an sinnlicher Wahrnehmbarkeit mangelt, eine Schwachstelle, die darin besteht, daß sie zur Erklärung ihres Anliegens ein Sprachrohr, ein Podium braucht. Die dazu oft nötige Vereinigung mit dem Establishment kann das Anliegen infrage stellen, ohne daß der Künstler es merkt, und die Erwartung, die er an sein eigenes Werk stellt, kann dann, genau genommen, nicht erfüllt werden.

 

Teresa Margolles Werk »Fosa Comun« (2005) zeigt einen Betonfußboden im Museum. Daran ist nichts Auffälliges zu sehen und es wäre auch wirklich nichts Besonderes, wäre der Beton nicht mit Wasser aus dem Leichenschauhaus angerührt. »Wer konnte den Seifenblasen, die sie in den Eingangsraum des Frankfurter Museums für Moderne Kunst regnen ließ, ansehen, daß sie mit Wasser aus dem Leichenschauhaus gemacht wurden, Wasser, mit dem Tote vor der Obduktion gewaschen wurden? Sie schwebten in der Luft (»En el aire«, 2003) wie Kinderträume — und zerplatzten auf der Haut der Besucher« — »Ist der unwissende Kunstbetrachter etwa der Glücklichere?« Kunstforum Bd. 182, 2006. Die Künstlerin, die angibt, daß ihre Arbeit im Untersuchen des Körpers nach dem Leben besteht, antwortet im Interview auf die Frage: »Ist Ihre Kunst über das Auge zu erfassen? Oder eher über die Einbildungskraft? — Ich glaube, daß meine Kunst auf die selbe Art und Weise wahrgenommen wird wie jede andere Kunst auch.« Kunstforum Bd. 182, 2006. Hier irrt sie sich, denn der Eindruck entsteht nicht ohne die beachtliche Zusatzinformation. Die selben Kunstwerke mit normalem Wasser angerührt, wären nicht davon zu unterscheiden gewesen und hätten beim Betrachter das gleiche ausgelöst. Das Kunstwerk kann nicht für sich sprechen und vermutlich braucht es auch den Überraschungseffekt, daß man die materialisierte Seite des Werkes zuerst wahrnimmt und dann die ideelle. Obwohl man das Anliegen der Künstlerin durchaus respektieren und ihr keinen leichtfertigen Gebrauch des Makaberen unterstellen kann, ist doch Zweifel angebracht, ob uns der Umgang mit dem Tod dadurch erleichtert wird. Aber sie will insbesondere auf die hohe Mordrate aufmerksam machen, erfährt man in einer weiteren Information. Jedoch in den Slums von Mexiko hätten Seifenblasen aus Leichenwaschwasser nicht den Status eines Kunstwerkes und darum kein Podium, von dem aus die Idee verbreitet werden kann und in den feinen Museen Europas, wo so etwas Unbehagen auslöst, ist es fraglich, ob der Betrachter bis zu seinem eigenen Tun rückkoppelt.

 

Mit weniger sozialen, sondern eher naturwissenschaftlichen Motivationen »machte sich unmittelbar nach dem Fall der Mauer der bis dahin in Düsseldorf lebende Künstler (Mario Reis) auf den Weg in den anderen Teil Deutschlands, um dort an den Flüssen zu arbeiten. Innerhalb weniger Monate durchkreuzte er die ehemalige DDR und legte an zahlreichen Orten auf Keilrahmen gespannte Baumwolltücher in die Gewässer, die darin mehrere Tage verweilten.« — »Die Resultate dieser Art von ,Spurensicherung′ thematisieren Material und Zeit der Gewässer. Sie besitzen eine ganz eigene naturimmanente Ästhetik und zeigen in mehr oder weniger starken Ablagerungen von Sand und Gesteinsarten« — »ein Spektrum einer breiten Skala von erdigen Tönen und Grauabstufungen. Ihre zarten Schattierungen nahezu transparenter Kompositionen (hervorgehoben T.M.) bis hin zu monochromen Erscheinungen können für den Betrachter etwas Transzendentes haben. Ist dies nicht vielleicht doch eine zeitgemäße Umsetzung der gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommenden Landschaftsauffassung, die in der Natur das Transzendente entdeckte? Dann wäre Mario Reis ja ein Landschaftsmaler ... Susanne Anna« Wasser — Ein interdisziplinäres Projekt der Städtischen Kunstsammlungen Chemnitz, 1994. Was man wahrnimmt ist schmutziges Papier, zum Teil reizvoll nuanciert. Ist das schon Kunst? Die Tatsache, daß bei mir manche Wände so aussehen, hat auch noch keiner als Kunst gewürdigt. Für eine geowissenschaftliche Forschung scheint es jedoch auch nicht zu taugen: es fehlt die Systematik und vor allem eine Auswertung. Da der Zufall hier der Hauptakteur ist, kann man glauben, die Natur hätte die Werke geschaffen, aber dann wären es keine Kunstwerke, denn Kunst ist ein Teil der Kultur und Kultur ist exakt das, was nicht Natur ist. Oder ist es politisch gemeint? Die schmutzigen Flüsse im Osten? Hier wird über die Grenzen der Disziplinen hin- und her- und weggesprungen (es ist schließlich ein interdisziplinäres Projekt) je nachdem von woher die Kritik kommt, die Hecke bietet Schutz. Und es ist eben wie ein Kunstwissenschaftler sagte, mit dem ich mich darüber unterhielt: »das Problematische an solcher Kunst, daß man sie übers Telefon berichten kann, man muß sie nicht erst sehen.« Der Künstler hätte sich also auch die Arbeit sparen können. Aber die Blätter waren zumindest schön.

 

 

6. Die Bedeutung der Synthese in Kunst, Philosophie und Wissenschaft

6.1. Das heutige Problem der Synthese

Kernanliegen des Projektes ist das Phänomen der Synthese in ihrer prinzipiellen Unterscheidung zur Mixtur. Gerade in letzter Zeit sieht sich der Kulturkonsument mit einer Modewelle von Projekten konfrontiert: grenzüberschreitend, interdisziplinär, multikulturell, crossover usw., die alle auf den Vorgang einer Verschmelzung verweisen möchten. Doch nicht jedes Projekt solcher Art hat wirklich etwas mit einer Synthese zu tun. Der größte Teil postmoderner Kulturäußerungen ist eher ein Aneinanderkleben verschiedenster Genre-Zitate. Die Wörter Synthese, Verschmelzung oder Fusion beanspruchen eigentlich den Vorgang der Vereinigung von mehreren gegensätzlichen Bestandteilen als dialektische Aufhebung zu beschreiben. Die Einzelteile verlieren ihren streng eingegrenzten Charakter, ihre Existenz wird aufgehoben im dreifachen Sinne: von beendet, von auf eine höhere Ebene gehoben und von im neuen Verschmelzungsergebnis konserviert. Das Problematische ist, daß es zwar einerseits nie umfassende Wahrheitsfindung ohne die Synthese geben wird, weil erst die synthetisierten Erkenntnisse den größeren Gültigkeitsbereich haben, andererseits die Synthese aber weit weniger spektakulär als die Analyse (durch ihre radikale Beschränkung) oder die Mixtur (durch ihre schroffen Brüche) in Erscheinung tritt. Da heute zur Verbreitung fast jeglicher Idee ein gewisses Marketing notwendig ist, wird es zum Handicap für eine wichtige Sache, wenn sie ausgesprochen unspektakulär ist. Aber die Tatsache, daß ein Bedarf an Synthese herrscht, wird gerade durch die oben genannte Mode bestätigt — nur hat diese hier wie überall das Merkmal, daß sie zwar auf einen Mangel hindeutet, den sie abzuhelfen verspricht, jedoch ihn dabei vergrößert.

 

6.2. Die Schwierigkeit der Synthese

Soll ein komplexer Sachverhalt in seinem Wesen der gegenseitigen Abhängigkeiten der Einzelbestandteile als Gesetzmäßigkeit wiederspiegelt werden, muß dem eine Analyse vorangehen. So läßt sich beispielsweise die funktionale Abhängigkeit eines chemischen Reaktionsverlaufes vom Druck ermitteln unter Konstanthaltung aller anderen Einflußgrößen oder ebenso die Abhängigkeit von der Temperatur bei nunmehr isobarem Verlauf. Jedoch jede einzelne dieser Aussagen hat eine eng begrenzte Gültigkeit und ist praktisch wenig nützlich, da in der Realität die Konstanthaltung der Parameter selten möglich ist. Es bedarf eines umfassenderen Modells, das die relevanten Einflußgrößen zugleich erfaßt. Stehen diese zueinander auch noch in gegenseitiger Abhängigkeit (ist also z.B. der Druck eine Funktion der Temperatur), können solche Modelle oft nur als Differentialgleichung aufgestellt werden, deren Integration nicht immer leicht ist. Der der Analyse folgende Schritt der Synthese der Einzelabhängigkeiten ist häufig so schwierig, daß der mit dem Problem Konfrontierte sich gern auf eine komplex-gefühlsmäßige Interaktionsebene zurückzuziehen versucht. Doch die empirisch-intuitive Erfassung ist die von Ungewißheit geprägte Einheit vor der Analyse. Die Analyse zerstört diese Einheit, und die Synthese soll die Einheit auf einer wesentlich allgemeingültigeren Plattform wieder herstellen. Diese hier abstrahierten Zusammenhänge treten auf allen Gebieten auf.

Auch in der Malerei hat die Untersuchung formalistischer Einzelaspekte seit dem Impressionismus eine vorherrschende Stellung eingenommen. Ganz im Sinne einer Analyse wird von den Impressionisten die Unstetigkeit des von sich bewegenden Oberflächen reflektierten Lichtes in den Vordergrund gerückt. Die anderen malerischen Ausdrucksmittel werden nicht nur vernachlässigt, sondern wie von den Pointillisten als unzulässig behandelt. Gleiche Radikalität weist in seiner Endkonsequenz fast jeder Stil auf, nur, daß jeweils ein anderer Aspekt in den Fokus tritt. Streng genommen ist die Einzelverfolgung eines Aspektes nicht gleichzusetzen mit dem untersuchten Gebilde, also mitnichten ein Stil gleich Malerei.

Wie aber führt der Weg von der Analyse über die Synthese zurück zur Malerei? Denn wer die Hoffnung hat, indem er z. B. aufeinander bezogenen Dreiecke mit unterschiedlich bunten Pünktchen füllt, die Synthese aus Konstruktivismus und Impressionismus herzustellen, geht völlig fehl. Schon allein deswegen, weil er die in Erscheinung tretenden Attribute mit dem Wesen verwechselt. Die Synthese geht tiefer, sie verschmilzt die Wesen und nicht die Erscheinungen, sie führt zu etwas Neuem, und sie erreicht Homogenität. Wasserstoff- und Sauerstoffmoleküle ergeben ein Gasgemisch, in dem die Einzelbestandteile erhalten bleiben und bei genügend Nähe hat man es entweder mit dem einen oder dem anderen zu tun. Erst die chemische Reaktion, bei der sich die Elektronenhüllen gegenseitig durchdringen, führt zu einem Stoff mit neuen Eigenschaften, der homogen und immer dasselbe ist, nämlich Wasser.

 

6.3. Synthese und Verantwortung

Der Mensch hat a priori eine ambivalente Haltung zur Verantwortung.

Durch die Erkenntnis, ein Individuum und auf sich selbst gestellt zu sein, wird der Mensch aus der Geborgenheit urnatürlicher und sippenhafter Zusammenhänge herausgerissen. Das und das folgende gilt gleichermaßen für die Menschheitsentwicklung als auch für die Entwicklung jeder einzelnen Persönlichkeit. Die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu erkennen und seine Freiheit wahrzunehmen, würde ihn — wenn es den kindlichen Narzißmus nicht gäbe — in einen lebensbedrohlichen Konflikt führen. Denn, wenn er einmal anfängt, sich von der Welt getrennt zu sehen, wird ihm klar, daß die Welt riesig, machtvoll, undurchschaubar und zusammenhängend ist, aber er dagegen klein, machtlos, desinformiert und einsam. Kann und soll im Laufe der kindlichen und jugendlichen Entwicklung der Narzißmus seinen Schutz nicht mehr aufrecht halten, wird der Aufwachsende sukzessiv mit einer aus dem Unbewußten aufsteigenden Ahnung von Impotenz und Einsamkeit konfrontiert und er sucht nach Verdrängung oder Überwindung des Gefühls. Täglich kommt er mehrfach an den Punkt, sich progressiv oder regressiv in Bezug auf die Individuation zu entscheiden.

 

Progressiv heißt, daß er einen Einssein-Zustand in der Welt sucht und den Weg über die Verantwortungsübernahme findet. Zuallererst geht es dabei um die Verantwortung für sich selbst, aber unlösbar damit ist die Verantwortung für Gesellschaft und Natur verbunden. Dazu bedarf es der folgenden Fähigkeiten und Motive: ein breites Maß an Erkenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft, eine subversive kritische Kombinationsgabe, ein individuell herausgebildetes Gewissen, eine selbstkritische Haltung und eine warmherzige Anteilnahme am gesellschaftlichen und eigenen Geschick, was sich alles auch mit den Begriffen Wissen, Liebe und Kritik zusammenfassen läßt. Im Akt der Übernahme von Verantwortung identifiziert sich der Mensch mit der Welt, die auch seine Person einschließt. Das Problem der Trennung wird nicht verdrängt, sondern konstruktiv überwunden und der Mensch spürt diese punktuelle Vereinigung mit dem Universum als Glück, was ihn weiter motiviert diesen Weg zu gehen, der ihm ermöglicht, sich und seine Umgebung immer besser kennenzulernen. So vollzieht er die tägliche Synthese als Herausforderung, Informationen und Anweisungen, die an ihn herangetragen werden, auf ihre Richtigkeit zu prüfen; festzustellen ob sie zu den eigenen Überzeugungen adäquat oder im Widerspruch sind und wenn letzteres, dann zu entscheiden, ob die neue Information oder die alte Überzeugung revidiert werden muß. Setzt dieser Prozeß konsequent und frühzeitig ein, hat der Mensch die Möglichkeit, »von innen nach außen« zu einer kompakten und konsistenten und deswegen selbstbewußten Persönlichkeit zu »kristallisieren«. (Ist dieser Kristallisationsprozeß unterbrochen und durch ledigliches Speichern und Ausführen ersetzt, wird es zunehmend schwerer zum gesicherten Ursprung zurückzufinden. Der so sich »bildende« Mensch muß sich mehr und mehr auf das Speichern der Informationen verlagern und der Schein seiner Persönlichkeit kann rasant wachsen, da die mühevolle Verifizierung unterbleibt, jedoch im Inneren wird er ausgehöhlt und voller Brüche.) Zusammenfassend kann man sagen, daß mit jeder gelungenen Übernahme von Verantwortung der Mensch individueller und gesellschaftlicher zugleich wird und damit noch fähiger und motivierter, Verantwortung zu übernehmen. Genau das ist der Weg, der in die Freiheit führt, wenn Freiheit nicht als bloße Unabhängigkeit mißverstanden wird.

 

Auch der regressive Weg sucht nach dem Einssein-Zustand der Welt, nur daß hierbei die Individuation und die Möglichkeit der Freiheit rückgängig gemacht werden sollen. Wird die Verantwortung als Überforderung angesehen, oder hat der Mensch keine ausreichende Motivation, versucht er sie zu delegieren, hätte aber das Problem, sich seines Getrenntseins von der Welt mit all dessen zur Verzweiflung führenden Folgen bewußt zu werden, stünden ihm nicht erprobte komplexe Verhaltensmuster zur Verfügung, die durch die Erziehung bereits präventiv mitgegeben wurden. Diese Verhaltensmuster, die in bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse führen, geben demjenigen Identität, der sich zu ihnen bekennt, lassen ihn an der entsprechenden Größe teilhaftig werden, erlösen ihn aus seiner Einsamkeit, nehmen ihm die Last der Verantwortung ab, da alles bereits für ihn organisiert ist, kurzum sie geben ihm die Illusion, daß alles sich zum Besten entwickelt, nur eines dulden sie nicht: eine kreative individuelle und gesellschaftsfähige Entfaltung. Und sie sind ausgesprochen vielfältig und miteinander verwoben. Ob es sich um Religion handelt, Konformismus, Nationalismus, Rassismus, Sadomasochismus, Nekrophilie oder den nicht abgebauten Narzißmus, es sind alles Krankheiten, deren Symptome nicht mehr auffällig sind, da sie schon längst selbstverständliche Teile unserer Kultur geworden sind und in zunehmende Vertiefung therapiert werden.

Auf ein Phänomen soll hier gesondert hingewiesen werden: die Spezialisierung. Der »Spezialist« versucht, auf einen äußerst beschränkten Teil des Lebens sein gesamtes Augenmerk zu richten, was ihn angeblich von der Verantwortung in anderen Lebensbereichen enthebt, jedoch ihn damit unfähig macht, sein Spezialgebiet realistisch in die Gesamtheit einzuordnen. Es handelt sich ja nicht nur um die Spezialisierung bei Wissenschaftlern, die zwar einen Epsilonbetrag der Welt zu 99 % kennen und vom Rest nichts verstehen wollen, sondern auch um die Spezialisierung auf nur körperliche oder nur geistige oder nur musische Tätigkeiten; aber am groteskesten ist die Spezialisierung, die Sportler sich antun, wenn sie bereit sind, ihren Lebensentwurf auf die Abfolge von 50 gutgeölten Handgriffen zu reduzieren, und in den Massenmedien wird deren Spezialistentum schmerzlich offenbart, wenn sie sich zu politischen Fragen äußern. Es ist nicht nur eine naive Hoffnung, wenn man glaubt, daß — da man ja seine Aufgabenstellung selbst gut erledige — die Gesellschaft dafür Sorge trägt, ob diese Aufgabenstellung überhaupt legitim ist, sondern es ist Verantwortungslosigkeit. (Dieser Satz gilt nicht nur fürs Militär.) Und es ist Raubbau an der eigenen Seele, denn das fehlende Einmischen in globale Prozesse trennt den Spezialisten vom Alltag und der Welt, und er zieht sich, in diesem Teufelskreis gefangen, ängstlich weiter in sein Spezialgebiet zurück. Gehen wir davon aus, daß nur durch ein der Verantwortung Gerechtwerden, welches der Mensch unzählige Male tagtäglich unter Beweis zu stellen hat, indem er seinen Weg neu bestimmt, indem er teilnimmt, sich weigert oder Neues kreiert, die einzige Möglichkeit gegeben ist, auf gesunde Weise mit der Welt zu verschmelzen, kann die Lösung für den Spezialisten nur folgende sein: seinen Horizont zu erweitern. Nun ist das meist nicht so einfach: die Paradigmen scheinen für sich — aber eben oft nur für sich allein — gültig zu sein und ansonsten im Widerspruch zu stehen. Faule Kompromißlösungen oder collagehafte Bastelarbeiten nützen hier nichts. Erst wenn der Befürworter auch seinen Gegner wirklich versteht, rückt eine Lösung im Sinne einer Synthese in greifbare Nähe. Wer jetzt argumentiert, daß der Mensch dazu sowohl auf allen Gebieten, als auch in deren Tiefe gebildet sein müßte, und das würde die Fortsetzung der heutigen Entwicklungsgeschwindigkeit gefährden, muß sich die Gegenfrage gefallen lassen, wer denn diese Entwicklungsgeschwindigkeit determiniert außer die wettrüstende Dynamik des Konkurrenzkampfes und woher der wohl kommt.

 

6.4. Das Konzept der Synthese in den sinnlich wahrnehmbaren Kunstäußerungen

Zusammenhänge, wie sie zwischen Wahrheit, Verantwortung und Freiheit existieren, lassen sich theoretisch erörtern und diese Erörterungen sind vonnöten um ideologisierendem Mißbrauch zu begegnen. Jedoch ist es ein Fakt, daß Eindrücke, die der Mensch sinnlich wahrgenommen und mit den eigenen Gefühlen verarbeitet hat, stärkere Wirkung ausüben als reine Informationen und Theorien. Auch wenn nicht behauptet werden kann, daß es die Funktion der Kunst ist, solche Wirkungen in den Dienst der philosophischen Aufklärung zu stellen, muß ihr bescheinigt werden, daß sie hochgradig dazu befähigt wäre. Deswegen sollen die hier geäußerten Gedanken um das Konzept der Synthese nicht auf schulisch-didaktische Weise dem Rezipienten vermittelt werden, sondern im Rahmen eines Kunstprojektes, das Film, Malerei, Theater, Musik, aber auch erkenntnistheoretische und wissenschaftliche Betrachtungen vereint. Der Anspruch ist dabei nicht, daß alle Genres das gleiche Thema bedienen — das wäre gerade nicht im Sinne der Synthese — sondern vom gleichen Geist gespeist werden. Den großen Rahmen dafür bietet die Malereiausstellung unter dem programmatischen Titel Form-Farbe-Geste. Diese drei Begriffe sind die grundsätzlichsten Gestaltungsmittel in der Malerei. Die Form ist die Fläche, in der sich die Farbe ausbreiten kann und die mehr oder weniger spannungsreich in das Gesamtbild gesetzt wird. Die Farbe ist das, was die Formen voneinander unterscheiden läßt und ihnen das Maß an Präsenz verleiht. Und die Geste ist der aufgezeichnete Bewegungsvollzug, der von den physikalischen Eigenschaften der Farbmaterie und des Malwerkzeugs bestimmt wird, der die Form unterschiedlich klar aufbaut oder zerstört und durch seine Heftigkeit über das Temperament des Künstlers Auskunft gibt.

Die jüngere Kunstgeschichte kennt viele formale Erprobungen, auf einige dieser Gestaltungsmittel zu verzichten, um das Übrigbleibende in puritanistischer Weise ins Zentrum zu rücken, die sich, wenn sie Massenbasis erreichten, sogar zu epochalen Stilen herauskristallisierten.

Es lassen sich im Sinne des Mengenbegriffes aus der Mathematik alle existierenden Werke einer bestimmten Menge und damit auch jeweils entstehenden Schnittmengen zuordnen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

So bildet z. B. die informelle Malerei, die konsequent auf die Form verzichtet, die Schnittmenge aus Geste und Farbe. Konstruktivismus, Photorealismus, Neue Sachlichkeit u.a. bilden die Schnittmenge aus Form und Farbe, da die Geste zugunsten eindeutiger Flächenbegrenzungen unterdrückt wird. Doch im Zentrum gibt es eine Schnittmenge, die von Werken repräsentiert wird, deren Gestaltung zugleich von intensiver Farbigkeit, starken spannungsreichen Formen und einer heftigen Geste charaktisiert ist. Allein schon hierin — selbst bei völlig abstrakten Bildern, ohne jeglichen erzählerischen Gehalt — liegt eine Aussage, die durchaus vom Rezipienten verstanden werden kann: nämlich daß ungestüme Heftigkeit und regelnde Ordnung keine Antagonismen sein müssen, sondern daß sie sich gegenseitig die Basis liefern können oder anders formuliert, daß Ordnung nicht immer einengend sein muß und Wildheit, die ins Amorphe verpufft, gerade keine nachhaltige Wirkung erzielt.

Die Auswahl für diese Ausstellung soll also Künstler treffen, in deren Werken die Mittel Form, Farbe und Geste zu einer Einheit verschmelzen und sich dadurch auch ein Konsens der Künstler untereinander ergibt.

Erst auf der Grundlage dieser Einheit kann die Verschiedenartigkeit der Verschmelzungsmöglichkeiten gänzlich wahrgenommen werden.

Diese Dialektik zwischen Einheit und Vielfalt bestimmt auch die anderen Veranstaltungen, die in den Kontext der Ausstellung einbezogen werden.

Zur Eröffnung wird eine graphisch notierte Komposition von einem Orchester aus Free-Jazz-Musikern improvisatorisch umgesetzt. Der Gedanke hierfür ergibt sich aus der Kritik des Free-Jazz. Markenzeichen dieser Musik war eine Wildheit, die Wutausbrüche und Umsturzgedanken nahelegte und es war kein Zufall, daß diese Musikrichtung ihren äußerst heftigen Durchbruch in Europa genau 1968 erlebte. Damals hat der Zuhörer noch begeistert Beifall gezollt, wenn er bei einem Konzert einen zweistündigen Daueralarm ertragen hatte. Jedoch das Publikum hat sich gewandelt und neue Anforderungen an die Jazz-Musiker gestellt. Man verlangt vom heutigen Jazz mehr Strukturen, doch die Folge ist, daß er dadurch bieder geworden ist — aus der Sicht des musikalischen Handwerks ist er meisterlich geworden, komplexe komponierte Passagen, die virtuos beherrscht werden, wechseln ab mit improvisierten Einschüben, in denen die hervortretenden Solisten mit rasanten Spielgeschwindigkeiten handwerkliches Können demonstrieren. Doch es erreicht nur das Niveau einer Mixtur und aus künstlerischer Sicht fehlt einem solchen Konzert eine komponierte Dramatisierung des musikalischen Geschehens. Eine Synthese aus Improvisation und Komposition darf nicht durch eine zeitliche Abfolge von Splittern versucht werden, sondern beides muß zugleich erfolgen und sich gegenseitig benötigen. Eine graphisch notierte Komposition für ein mittelgroßes Orchester kann die Aufgabe lösen, indem jedem Mitspieler eine zeitlich präzise Partitur gegeben ist, die Einsatz, Lautstärke und ungefähre Tönhöhe festlegt. Und dennoch muß er im Augenblicke des Geschehens — dazu ist er ja als Free-Jazz-Musiker befähigt — den konkreten Ton selbst finden.

 

Auch andere Veranstaltungen im Rahmen des Projektes werden die Problematik der Synthese und ihre Beziehung zu Verantwortung, Freiheit und Wahrheit berühren, ohne daß dies jetzt im einzelnen begründet werden soll. Der Unterhaltungswert einer solchen Veranstaltung ist zwar nicht das angestrebte Ziel, aber dennoch ein nicht zu unterschätzendes Mittel unter dem Aspekt der freiwilligen Rezeption.

Theaterstücke, die das Prinzip der Erlangung von Freiheit durch das Wahrnehmen der Verantwortung mit tiefstem Ernst behandeln sind »Die Fliegen« von J.-P. Sartre oder »Die Physiker« von Dürrenmatt. Auch das Drehbuch »Im Räderwerk« von Sartre wird dem völlig gerecht. Es wäre wünschenswert ein solches Stück aufzuführen.

 

Während der Ausstellung, die auf zwei Monate angelegt sein sollte, können wöchentliche Veranstaltungen erfolgen; einige seien hier genannt:

-  Podiumsdiskussionen in Zusammenarbeit mit der TU Chemnitz, die Gemeinsamkeiten von Wissenschaft und Kunst zum Thema haben:

    1. der Erkenntnisprozeß in Wissenschaft und Kunst

    2. Trägt der Künstler / Wissenschaftler Verantwortung vor der Gesellschaft?

    3. Der Mythos in Wissenschaft und Kunst. Seine Vermarktbarkeit und die ungeliebte Normalität.

-  Aufführungen von Stummfilmen mit Live-Musik. Bei diesen Darbietungen kann der Zuschauer auf eindrucksvolle Weise erleben, mit welchem Einfühlungsvermögen und wirklicher instrumentaler Virtuosität der Musiker improvisierend die Stimmungen und das Geschehen des Films adäquat ins Musikalische transponiert. Auch dies ein Beispiel für das Prinzip der Synthese und darüberhinaus den Mut zum Verbindlichen, denn der Musiker unterwirft sich damit der Überprüfbarkeit seiner Qualität.

-  1968 hat es neben dem Durchbruch des Free-Jazz noch eine weitere Entwicklung in der Musik gegeben, die seitdem das Musikgeschehen weltweit, vielleicht sogar bis zum heutigen Tag beeinflußt hat. Der Gruppe Soft Machine gelang die Fusion aus den Kenntnissen der Ernsten Musik, der Hitze des Free-Jazz und der Kraft des Rockinstrumentariums. Leider löste sich diese Gruppe nach einigen Jahren wieder auf. Im Jahre 1999 gelang den Veranstaltern von Form-Farbe-Geste auf Schloß Augustusburg die Wiedervereinigung dieser Gruppe. Obwohl die wichtigsten Musiker aus diesem Umfeld inzwischen verstorben sind, gibt es andere, die den Geist weitergetragen haben. Es sollte versucht werden, ein solches Konzert als Höhepunkt des Projektes zu organisieren.

-  Ganz im Geiste des gesamten Projektes, dem die Frage inhärent ist, wie weit Spezialisierung gehen kann bis sie in Verantwortungslosigkeit einmündet, ist als Abschluß der Ausstellung ein Preisausschreiben geplant, bei dem die Beantwortung der Fragen eine umfassende Bildung erfordert, aber auch ein intensives Beobachten von Natur und Gesellschaft mehr dient als das Studium der Massenmedien.

 

 

7. Kunst — Hydrauliköl der Macht

(Auszug aus einem Brief)

 

... Allerdings war es nicht nur Zeitknappheit bei mir, sondern Du hast mich mit Deinem Text und der Auswahl auch vor ziemliche Probleme gestellt. Und es ist auch jetzt nicht leicht für mich, so zu reagieren, daß Du mich richtig verstehst. Dein Text ist noch das Einfachste: auf Verbales kann man verbal reagieren; das habe ich getan und schicke ihn Dir mit meinen — ich hoffe, Du hast was für Kritik übrig — Anmerkungen zurück. An der Künstlerliste herumzumäkeln fällt mir schon schwerer, denn ich möchte mehrere Eindrücke nicht erwecken:

1.      daß Du denkst: erst fragt er nach einem Kurator und dann will er doch alles selbst bestimmen.

2.      daß ich, da ich selbst Künstler bin, irgendwelche Konkurrenzgedanken anderen Künstlern gegenüber habe.

3.      daß die Liste meinen Geschmack nicht trifft.

Es ist etwas anderes: jegliche Auswahl, die man trifft, basiert auf einem Prinzip — auch wenn sich der Auswählende über das Prinzip und dessen Existenz nicht bewußt ist. Der Mensch kann fast nichts Zufälliges tun. Die Frage also, die mich am meisten beschäftigt, ist: was war Dein Prinzip? Du hast zwar zwei prinzipielle Äußerungen angegeben: daß sie sich der postmodernen Beliebigkeit entziehen und am Elementaren arbeiten. Doch das ist mir zu vage. Wohin entziehen sie sich? Gibt es da einen Standpunkt oder nur eine andere Beliebigkeit — statt der postmodernen? Es sind nämlich dummerweise ein paar unter Deinen Nominierten, die mir — ausgehend von dem, was ich von ihnen kenne — nicht weniger beliebig als der Rest der Maler vorkommen.

Doch nebenbei hast Du auch noch eine ganz andere Frage aufgeworfen: Was ist denn das Elementare? Geht es um das Elementare in der Kunst? Das Elementare in der Malerei z.B. wäre für mich zuallererst das, was auf dem Werk tatsächlich vorhanden ist, und was wir auch unmißverständlich wahrnehmen können. Nämlich die Formen, die durch die Farbe ihren Inhalt bekommen und durch Farbunterschiede überhaupt erst zur Form werden. Die Farbe, die durch die Geste des Malprozesses aufgetragen wird. Und eben diese Geste, die jeweils die Form stabilisieren oder erzeugen oder deformieren kann. Das ist für mich das Elementare und auch der eigentliche Inhalt von Bildern. Es ist auch das, was die primäre Wirkung auf die Psyche ausübt. (Dabei darf man neben Form und Farbe die Geste nicht unterschätzen, sie geht direkt auf den Betrachter über und sagt auch viel über das Temperament des Künstlers aus.) Aber das Wichtigste ist die Einheit zwischen den drei Elementen. Z.B. kann ein Bild mit extrem heftiger Geste, die aber so eingesetzt ist, daß sie Formen nicht zerstört, sondern die gedachten, geplanten Formen, die erst noch gemalt werden sollen, respektiert oder sogar aus sich heraus schafft, Kraft und Hoffnung im Rezipienten erzeugen, besonders dann, wenn die Farben nicht bunt und beliebig gewählt sind, sondern untereinander in gewisse Zusammenhänge gebracht werden, die für den Betrachter logisch nachvollziehbar sind.

Deswegen z.B. Kraft im Rezipienten erzeugen, weil er erlebt, daß Wildheit und Revolte (die Geste) nicht prinzipiell destruktiv sind, sondern auch konstruktiv sein können, und daß Ordnung (z.B. einer strengen formalen Komposition) nicht einengend sein muß, sondern auch Grundlage schaffen kann. Er könnte erkennen, daß Gesetzmäßigkeit Schönheit ist und Schönheit kein Kitsch. Das sind Erkenntnisse, die — wenn er sie selbst sinnlich wahrnimmt — viel tiefer gehen, mehr Wirkung haben, als würde man versuchen, das belehrend bewußt zu machen.

Ein frei gewähltes Beispiel soll zeigen, daß hierin der eigentliche Inhalt eines solchen Bildes liegen kann: Geängstigt vor der unterdrückenden und einengenden Wirkung von Disziplin und Ordnung flieht ein Mensch in unverbindliche Unabhängigkeiten, findet sich allein und impotent wieder. So sucht er nach Anlehnung und der Lösung quälender Fragen: wo er seinen akzeptierten Platz findet, wer eigentlich Verantwortung für ihn trägt und wohin er die Verantwortung, die ihm aufgebürdet wird, delegieren kann. Als Antwort bieten sich ihm Hierarchie, Masse oder Religion an, wovor er ja floh. Demgemäß erlebt er Wildheit und Ordnung als unvereinbar.

Doch wenn er spürt, mag es nur auf einem Gemälde sein, daß beide nicht nur koexistieren können, sondern sich gegenseitig erzeugen, dann kann das für ihn ein wertvoller Input sein. Der Inhalt hat sich ihm offenbart, ohne daß er das bewußt verarbeitet hat. Hierin liegt auch die Identität von Inhalt und Form. Ich hatte Uwe Kolbe vor 30 Jahren kennengelernt und er hat behauptet: Inhalt = Form. Aber er konnte es mir nicht richtig erklären; gleich gar nicht an seinen Gedichten. Vielleicht ist das hier eine Erklärung.

Dieses inhaltliche Sichtbare (aus Form, Farbe, Geste) ist erst einmal unabhängig von dem Erkennbaren, (wie z.B. Landschaft, Mensch oder Ding), welches eine Teilmenge vom Sichtbaren ist. Und noch eine Stufe entfernter steht das Interpretierbare, welches eine Teilmenge der anderen beiden ist. Journalisten, die einen Stoff für eine Geschichte brauchen, überbewerten dieses Interpretierbare oft. Ich finde, daß es sehr bedeutsam sein kann, aber für die Malerei nicht wesentlich und elementar ist. Genauso wenig wie bei der Musik der Text.

Entsprechend dieser Sichtweise finde ich es richtig, wenn wir für die Ausstellung Maler finden, die am Elementaren arbeiten. Aber die, die ich von Deiner Liste dazuzählen würde, sind genau die, die schon bei den vorangegangenen FFG-Ausstellungen dabei waren (bzw. im Gespräch waren wie Hubertus).

 

Wenn ich es also umgekehrt mache und von der Künstlerliste auf Dein Prinzip zu schließen versuche, komme ich nicht auf Anhieb zu einer Lösung. Aber vorerst scheint mir, daß wir unterschiedliche Prinzipien verfolgen. Und das ist der Grund, warum ich mich einmische. Ich will das mal mit einem Beispiel erklären. Wenn es sich ergibt, mit jemandem in den Urlaub zu fahren, muß ich am Anfang mit ihm einen Konsens herstellen. Geht es darum, mit ihm zusammen wegzufahren, kann er oder ich das Reiseziel auch wieder ändern wollen, wichtig ist, daß wir zusammen bleiben. Besteht der Ausgangspunkt aber darin, daß ich nach Mauretanien fahren will und frage, wer Lust hat mitzukommen, dann werden die anderen Personen und deren Ausrüstung austauschbarer als das Ziel. Und wenn ein anderer dann, der Skier mit sich rumschleppt, sich über mangelhafte Schneeverhältnisse beklagt, erlaube ich mir, ihn an den Konsens zu erinnern. Ich denke nicht, daß der eine oder der andere der bessere Konsens ist — wichtig ist nur, daß man weiß, welchen man getroffen hat. In unserem Fall steht allerdings das Konzept als das Unverrückbare fest. Wenn die Künstlerauswahl nachvollziehbar dem richtig verstandenen Konzept folgt, kann ich mir nicht vorstellen, daß ich dann reinreden würde.

Allerdings liegt hierin auch eine gewisse Dialektik zwischen Prinzip und Auswahl-Liste: eigentlich sollte man vom Prinzip auf den Einzelfall schließen, doch oft wird das Prinzip erst durch viele Einzelfälle plastisch erklärbar. D.h. man muß sich iterativ dem Konsens nähern und dazu müßten wir — vorausgesetzt Du hast noch Lust — uns zu einem Gespräch treffen. Es geht aber nicht nur darum, daß mit Form-Farbe-Geste etwas Programmatisches im Hinblick auf das Prinzip Synthese veranstaltet werden soll, sondern die Aktivitäten, die sich die Stadt Chemnitz wünscht, sollen unter dem Thema stehen: »Jahr der Wissenschaft«. Und für das Ausstellungsprojekt und einige darin integrierte Veranstaltungen gilt das Anliegen: »Wissenschaft und Kunst«.


Wissenschaft und Kunst

 

1.                  Erkenntnis und Suggestion

1.1.                  Stufen der Suggestierbarkeit

1.2.                  Autosuggestion

1.3.                  Massensuggestion

1.4.                  Autoritätseinfluß

1.5.                  Hypnose und posthypnotische Aufträge

1.6.                  Rationalisierung

1.7.                  Popkultur

1.8.                  Suggestion in der Malerei

1.8.1.         Die wirkliche Suggestivkraft eines Bildes

1.8.2.         Die Schaffung von Respekt durch Verstörung

1.8.3.         Die Wertübertragung vom Namen des Künstlers auf das einzelne Exemplar

1.8.4.         Die Wertübertragung vom Präsentationsrahmen auf den Künstler und damit auf das Werk

1.8.5.         Der Affe und der Star

1.9.            Die Alchemie des Kulturbetriebes

1.10.          Die Kunst als Mittel der Verstörung

1.10.1.                  Identität des Eigentümers und seine Machtmanöver

1.10.2.       Die Akzeptanz des Unlogischen

1.10.3.                  Überschwemmung statt Zensur

1.10.3.1.                  Infragestellung von Qualitätsmaßstäben

1.10.3.2.                  Flexibilisierung unserer Wegwerfgesellschaft

1.10.3.3.                  genügend Produzenten

1.10.3.4.                  Kunst als Therapie

1.10.3.5.                  Förderung durch Industrie


2.                  Weigerung und Verantwortung

2.1.                  Ungerechtigkeit

2.2.                  Verschwendung

2.2.1.                  Effizienz durch Schaffung von Bedürfnissen

2.2.2.         Die Natur als Vorbild

2.2.2.1.                  Natur

2.2.2.2.                  Kultur

2.2.2.3.                  Aufeinandertreffen von Natur und Kultur

2.2.3.         Die thermodynamischen Übergänge eines Systems

2.2.3.1.                  Idealismus

2.2.3.2.                  Erscheinung und Wesen

2.2.3.3.                  Systemstabilisierungsenergie

2.2.3.4.      Das Wesen des Menschen

2.2.3.5.      Die adäquate Erscheinung

2.2.3.6.                  Systemstabilisierungsenergie in der entfremdeten Gesellschaft

2.2.3.6.1.                  Geld

2.2.3.6.2.                  Grenzen

2.2.3.6.3.                  Disziplin und Ordnung

2.2.3.6.4.                  Macht

2.2.3.6.5.                  Ideologie

2.2.3.6.5.1.                  Die Vertauschung der Begriffe Kommunismus-Sozialismus

2.2.3.6.5.2.                  Diktatur und Demokratie

2.2.3.6.5.3.                  Freiheit als Wahlfreiheit

2.2.3.6.5.4.                  Verleugnung des menschlichen Wesens       

2.2.3.6.5.5.                  Unsere Kultur — ein Exportschlager

2.2.3.6.5.6.                  Zusammenfassung Ideologie

2.2.3.6.6.                  Entfremdung

2.2.3.6.7.                  Befriedigung der Pseudobedürfnisse

2.2.3.6.8.                  Religion und Kirche

2.2.3.6.9.                  Sozialmaßnahmen und Förderprogramme

2.2.3.6.10.                  Zusammenfassung der Systemstabilisierungsenergie in der heutigen entfremdeten Gesellschaft

2.2.3.7.                  Überwindung des Potentialwalls

2.2.4.                  Weitere Formen der Verschwendung

2.3.                  Weigerung

2.4.                  Verantwortung

2.5.                  Künstlerdilemma und Künstlerliste

 

Das klingt eigentlich nicht neu. »Interdisziplinär«, »grenzüberschreitend« sind ja schon seit Jahrzehnten beliebte Schlagwörter. Daß die Einzeldisziplinen innerhalb von sich selbst überfordert sind und viele Probleme nicht mehr lösen können, ist klar, aber die versuchte Synthese (deren Extremfall Hermann Hesse im Glasperlenspiel formulierte) gelingt oft nicht. Es erfolgt nicht die Verschmelzung der Wesen verschiedener oder konträrer Dinge, sondern eine Aneinanderreihung der Erscheinungen. Postmoderner Mix. Mehr darüber steht hier: (Die Bedeutung der Synthese)

So findet man oft auch einen unglücklichen Spagat zwischen Kunst und Wissenschaften: Der Künstler Carsten Nicolai sitzt an einem — wie U. Hammerschmidt in einem Artikel in der Freien Presse umständlich als » Leinwand für frequenzabhängige Kurven« beschreibt — Oszillographen. »Seine Bilder sind klinisch weiße Zimmer oder pechdunkle Räume, in denen es  brummt und zischt. Wannen voller Milch oder Wasser stehen auf Lautsprechermembranen, Töne schlagen Wellen, Schwingungen zeichnen sich auf den Flüssigkeiten ab. Der Computer ist der Pinsel, seine Skulpturen setzen sich zusammen aus Kabeln und technischen Geräten. Und das Atelier gleicht dem Versuchslabor eines Wissenschaftlers.« Wo ist hier die Kunst? C.N.: »Da sehe ich mich auf einer vollkommen anderen Seite, auf der Seite der Wissenschaft.« Gut, daß ihm dieser Ausweg bleibt; Leuten gegenüber, die vielleicht von Wissenschaft nichts verstehen. Einem aufrichtigen und ernsten Wissenschaftler allerdings kann eine solche Inszenierung keine Freude über das Nachwuchstalent entlocken, sondern löst eher Beklommenheit aus, weil sie eine völlig falsche Auffassung des Wissenschaftlichen offenbart. Denn das Wissenschaftliche liegt nicht im Instrumentarium, sondern im Abstrahieren von der eigenen Person. Hier aber ist das Gegenteil der Fall: der Versuch, einen narzißtischen Anspruch durchzusetzen. Letztlich kann sich vielleicht der Wissenschaftler damit trösten, daß es ja doch eigentlich Kunst sein soll, was er da sieht.

 

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß in den Industriestaaten ein großer Teil der Bevölkerung die Wissenschaft dämonisiert. Einerseits wird sie als Urheber diverser Gefahrenpotentiale verteufelt (Kernspaltung oder sogar -fusion, Genmanipulation, chemische Produkte im Alltag und im Essen ...), obwohl die Gefahren mit Sicherheit nicht von den Wissenschaftlern, sondern eher von der Befriedigungslust der Techniker und noch viel mehr von ökonomischen Prämissen ausgehen. Und andererseits macht es dieser Bevölkerung Spaß, über wissenschaftliche Theorien zu plaudern (Chaostheorie, Quantenmechanik, Relativitätstheorie, Genetischer Code ... ) bei kategorischem Ignorieren aller notwendigen Grundlagen. Dieser Widerspruch wird besonders hier zusammengeballt: chemtrails, cloud boosters, mindcontrolling aus dem All ...

Für mich stellt sich das wie eine Haß-Neid-Beziehung dar, die diese Menschen gegenüber der Wissenschaft aufgebaut haben. Sie erahnen die Herrlichkeit wissenschaftlicher Forschung, aber auf Grund mangelnden Verständnisses fühlen sie sich ausgeschlossen, können nicht an der Aufklärung des großen wissenschaftlichen Geheimnisses teilhaben, stehen der Wissenschaft argwöhnisch gegenüber und würden doch gerne mitspielen.

 

Um dem Anliegen »Wissenschaft und Kunst« näher zu kommen, sehe ich eher den Weg darin, gemeinsame Probleme und Aufgabenstellungen zu beleuchten, wie z.B. Erkenntnis oder Verantwortung.

 

1. Erkenntnis und Suggestion

Neben der Frage, wie der Erkenntnisprozeß abläuft, also wie sich die Realität in unserem Bewußtsein abbildet, mit welcher Präzision, unter welchen Randbedingungen diese Abbildungen Gültigkeit behalten, welches Maß an Präzision und Gültigkeit notwendig ist, stellt sich die Frage, inwieweit diese Abbildungen deformiert sind und worin die Motive für derartige Deformationen liegen. Das führt uns zur Frage nach der Suggestierbarkeit des Menschen. Die Suggestierbarkeit, Grundlage sowohl für den Aberglauben der einen, die Macht der anderen und deren Aberglauben an den Nutzen ihrer Macht, kann Wahrnehmungen verändern, ausblenden und sogar erzeugen. Weil die Suggestierbarkeit viel mit Kunst, die ohne die Suggestivwirkung gar nicht auskommt, zu tun hat, weil sie, was ebenso unser Thema betrifft, der wichtigste Gegenspieler der Wissenschaftlichkeit ist, und weil sie, wenn sie bis zur Gehirnwäsche geht, auch sehr gefährlich werden kann, und aus diesen drei Gründen ein enormer Einflußfaktor nicht nur auf Kunst und Wissenschaft, sondern darüber hinaus auf das politische und wirtschaftliche Leben ist, soll diesem Komplex entsprechende Beachtung geschenkt werden.

 

1.1. Stufen der Suggestierbarkeit

Eine Beobachtung, die ich immer wieder selbst gemacht habe, und deren Verifizierung ich meiner Beschäftigung mit Psychoanalyse verdanke, ist, daß der Mensch auf Befehl fast alles glaubt und darüberhinaus Empfindungen und Erinnerungen ohne jede originäre Grundlage kreiert, wenn von ihm der Befehl als solcher nicht erkannt wird. Es ist genauso interessant wie schockierend, wenn man sich mit diesbezüglich gemachten Experimenten beschäftigt. Ich meine nicht die Experimente der CIA an amerikanischen Soldaten unter LSD-Einfluß, sondern eher recht harmlos anmutende Experimente an völlig normalen Mitmenschen unter keinesfalls zwanghaften Bedingungen; z.B. die von Elizabeth Loftus. Ihr ging es um die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen und natürlich in diesem Zusammenhang um unser Erinnerungsvermögen mit und ohne versteckte Einflußnahme. Zur Illustration mal ein paar Beispiele:

 

1. 150 Versuchspersonen (VP) sehen einen Kurzfilm über einen Verkehrsunfall. Der Schuldige überfährt ein Stoppschild. Danach beantworten sie einen Fragebogen mit 10 Fragen, von denen nur die erste und die letzte relevant sind. 75 VP erhalten als erste Frage: »Wie schnell schätzen Sie den schuldigen Fahrer, als er rechts abbog?« und als letzte Frage: »Sind Sie sicher, ein Stoppschild gesehen zu haben?« Die anderen 75 VP erhalten einen Fragebogen, der sich nur darin unterscheidet, daß die erste Frage lautet: »Wie schnell schätzen Sie das Auto, als es das Stoppschild überfuhr?« Von der ersten Gruppe antworten auf die letzte Frage 35 % mit ja, von der zweiten 53 %. Bei einem Drittel dieser VP kommt demzufolge die Sicherheit nicht durch die Beobachtung, sondern durch die Suggestion.

 

2. 40 VP sehen einen Ausschnitt eines Films, in dem acht demonstrierende Studenten eine Vorlesung stürmen. Danach beantworten sie einen Fragebogen, der neben 19 anderen nur eine relevante Frage enthält, für eine Hälfte der VP: »War der Anführer der vier Demonstranten männlich?« Für die anderen 20 VP: »War der Anführer der zwölf Demonstranten männlich?« Nach einer Woche beantworteten die 40 VP nochmals einen Fragebogen, worin die Frage nach der Anzahl der Demonstranten gestellt wurde. Wie zu erwarten, gab es signifikante Unterschiede. Die eine Gruppe meinte im Durchschnitt sechs, die andere neun gesehen zu haben.

 

3. 150 VP wurde wiederum ein Film mit Verkehrsunfall gezeigt. Anschließend wurde um das Ausfüllen der Fragebögen gebeten, von denen je 50 in drei leicht verschiedenen Varianten ausgeteilt wurden, ohne die Befragten auf die Unterschiedlichkeit hinzuweisen.

Gruppe 1: nur 40 Füllfragen

Gruppe 2: 40 Füllfragen + 5 relevante Fragen, die jeweils direkt nach einem Filmdetail fragten, das nicht im Film vorkam, wie z.B.: »Haben Sie die Scheune gesehen?«, »Haben Sie die Schranke gesehen?«

Gruppe 3: hier waren die 5 relevanten Fragen nicht direkt sondern als manipulierende Voraussetzungen formuliert, wie z.B.: »Parkte der Bus vor der Scheune?«, »War die Schranke am Bahnübergang geschlossen?«

Als nach einer Woche allen VP die Fragen nochmals vorgelegt wurden, diesmal einheitlich mit der direkten Nachfrage (also wie Fragebogen Variante 2), gaben von Gruppe 1 durchschnittlich 8 % an, sich an die fünf nicht vorhandenen Filmdetails zu erinnern, von Gruppe 2 waren es 16 % und von Gruppe 3 lag der Durchschnitt bei 30 %

 

4. Von den Eltern brachte man drei Kindheitserlebnisse der VP in Erfahrung. Der Experimentator fügte ein frei erfundenes viertes hinzu und bat die VP detailliert über alle vier Ereignisse von damals zu berichten. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, daß er ein Erlebnis erfunden hatte, was die VP zufälliger Weise tatsächlich erlebt hatten, sehr gering ist, konnten die VP über alle vier Erlebnisse gleichermaßen detailgetreu und emotionsgeladen berichten.

 

Ich habe diese vier Experimente ausgewählt, weil sich die einzelnen Stufen der Suggestion demonstrieren lassen.

1.      Die Suggestion kann etwas wachrufen, das man gesehen hat, aber nicht wahrgenommen.

2.      Die Suggestion kann das Gesehene und Wahrgenommene verfälschen.

3.      Die Suggestion kann die Einbildung nicht gesehener Dinge hervorrufen.

4.      Die nicht existierenden Dinge können zum Leben erweckt werden.

 

1.2. Autosuggestion

Harmlos nannte ich diese Dinge in Bezug auf ihre Ausprägung (immerhin ging es nicht um Mord und Totschlag), aber harmlos sind sie schon lange nicht mehr in Bezug auf ihre flächendeckende Anwendbarkeit, besonders dann, wenn man bedenkt, wie groß das Maß der Autosuggestion ist, die noch hinzukommt. Vor allem, da wir ja von uns selbst kaum in Erfahrung bringen können, welche unserer Überzeugungen und Emotionen auf realen Grundlagen basieren und welche unwahr sind. Nimm folgendes Beispiel: An einer Küste trifft ein Tourist einen Fischer, der gerade vom nächtlichen Fang zurückkehrt und dem Touristen seine Ansicht mitteilt, daß es heute noch regnen werde. Der Tourist, der früh im Hotel Nachrichten und Wetterbericht im Radio gehört (und vermutlich wieder vergessen) hat, richtet seine Empfindungen auf das Thema und sagt dann, er spüre das auch. Aber das ist der Irrtum. Er glaubt, es zu spüren, aber er kann es nicht mehr spüren, wenn er es bereits weiß. Er hat vielleicht nicht einmal eine Vorstellung davon, wie es ist, soetwas zu spüren, da ihm die lebenslangen Erfahrungen des Fischers fehlen und er bisher immer die Information früher konsumiert hat, als er eine Hypothese und deren Verifizierung hätte aufstellen können. Natürlich sind Suggestierbarkeit und Autosuggestion nicht bei jedem Menschen gleich ausgeprägt und hängen von vielen Faktoren ab: Umstände, Kritikvermögen, Selbstbewußtsein, Grundsatzüberzeugungen, aber besonders wichtig ist die Frage, inwieweit eigene Motivationen durch die Suggestion befriedigt werden. Ein amüsanter Vorfall, den ich schon einige Male selbst beobachten konnte, ist folgender: Daß man, wenn man schon einen öden Alltag hat, diesen durchbrechen will, ist verständlich, und nichts ist besser geeignet, als ein Abenteuer, doch niemand ist für ein Abenteuer schlechter geeignet, als der Mensch aus dem öden Alltag. In Tunesien kann man das Abenteuer käuflich erlangen, wenn man einen Karawanenausflug zwischen gefährlichen Felsschluchten, in denen die Räuber lauern, als Reisegruppe bucht und sich allabendlich gemeinsam freut, daß man nochmals mit dem Leben davon gekommen ist, wenn man sich dann 18 Uhr im Hotelrestaurant trifft. Ja, auch Marokko ist geeignet, abenteuergeladen nach Hause zu kommen, und deswegen reisen viele Touristen, wenn sie nun schon einmal den Flug nach Agadir und das wochenlange Rumliegen am Swimmingpool in der Nähe des Strandes auf sich nehmen, zum »Erg Chebbi in die Sahara«. Das ist ein 150 m hoher Sandhaufen am Rande des besiedelten Geländes, den man auf einem Kamel reitend einmal umrunden kann. Für alles, auch Übernachtung im Freien, ist gesorgt. Ich denke, daß der Hauptlustgewinn darin besteht, sich auszumalen, wie man das Abenteuer den Zuhausegebliebenen schmackhaft berichten kann. Trifft man dann später diese Erg-Chebbi-Abenteurer, sind sie immer noch derartig aus dem Häuschen, daß es ihnen schwer fällt, das Erlebte in Worte zu kleiden: absoluter Wahnsinn, klare Luft, Wahnsinn, unfaßbare Stille — man hört sogar sein eigenes Herz, totaler Wahnsinn, nie gesehene Dunkelheit — man kann die Milchstraße sehen. Um das kostbare Erlebnis nicht zu zerstören, frage ich nicht weiter, konstatiere aber, daß die marokkanischen Touristenführer sehr einfühlsame Psychologen sind, wenn es ums Geschäft geht.

Das ist es eben, daß wir Affekte verspüren wie Empörung, Freude, Schuld usw. und diese mit irgendeinem Ereignis (durch oder ohne äußere Beeinflussung) als ursächlich verknüpfen, wobei wir den Trugschluß aufbauen, daß die Stärke der Affekte die Richtigkeit der Interpretation begünstigt. Das Gegenteil ist der Fall. Nehmen wir einen Menschen, der voller Respekt eine Galerie betritt, auf ein Bild zusteuert und freudestrahlend ausruft: »Ein herrlicher Grimmling«. Während er glaubt, die Freude kommt daher, daß er die Stärke des Kunstwerkes genießt, denke ich, daß die Freude des Betrachters im Erkennen der Urheberschaft ihren Ursprung hat, mit der Beseitigung seiner anfänglichen Unsicherheit verstärkt wird und im anerkennenden Nicken des Galeristen ihren Höhepunkt findet. Künstler kennen diesen Fakt genau, auch der Kunstmarkt profitiert davon und fordert den Wiedererkennungseffekt, die Kunst reduziert sich darauf, ein Logo zu entwerfen: Ein Penck in der Stube ist wie ein Mercedesstern auf der Kühlerhaube. Vor lauter Freude über das Erkennen und seinen eigenen künstlerischen Sachverstand vergißt der Rezipient zu sagen: Mensch, der malt doch schon seit Jahren dasselbe.

 

1.3. Massensuggestion

Wenn man davon ausgeht, daß Lehre an Bildungseinrichtungen Wahres überzeugend darstellen soll und sich deswegen grundsätzlich von Suggestion zu unterscheiden hat, resultiert daraus auch die Forderung, daß der Kunsterzieher analytisch nachweist, worin die herausragende Bedeutung der einzelnen Künstler besteht. Das kann er aber, was die zeitgenössische Kunst betrifft, im Regelfall nicht. Er kann im Einklang mit dem Lehrplan höchstens Biographisches berichten und des Künstlers Bedeutung behaupten; eine Bedeutung, die, durch die Massenmedien verbreitet, oft von den erzielten Auktionspreisen ausgeht. Aber gerade die Auktionen sind das Gegenteil eines Gradmessers von Qualität. Ganz abgesehen davon, daß die Käufer kaum noch der wirklichen künstlerischen Qualität wegen kaufen, ist die Auktion eine völlig suggestive Angelegenheit, eine »perfekt inszenierte Show« wie P. Dossi (Hype! Kunst und Geld) schreibt, »ist die Auktion das Ergebnis einer bis ins Detail geplanten Strategie« inklusive der Schätzpreise und vorher abgestimmter Gegenbieter. Und gerade der stattfindende gesteuerte Emotionsaufbau beim Publikum und dessen Äußerung ist das, was auf jeden Einzelnen wieder zurückwirkt und sich so verstärkt. Das kann man auch Massenhypnose nennen.

Dazu noch zwei reproduzierbare Beispiele: Zwei Versuchsgruppen erlebten, wie über Monitor Namen aus dem Hamburger Telefonbuch vorgelesen wurden. Gruppe 1 reagierte mit gewisser Ratlosigkeit. Dagegen stimmte Gruppe 2, der die Darbietung mit unterlegter Lach- und Beifallskulisse geboten wurde, in das Gelächter und den Beifall mit ein.

Ein anderes Beispiel bietet das Konformitätsexperiment von Solomon Asch: Einer Reihe von Personen, unter denen sich nur eine VP befand, die allerdings im Glauben war, daß alle getestet werden, wurde vom Versuchsleiter eine Serie von jeweils zwei Tafeln gezeigt. Auf der einen Tafel waren immer drei unterschiedlich lange Linien abgebildet und auf der anderen jeweils eine, die exakt einer der drei anderen identisch war. Die Personen wurden befragt, welche der drei dieser einzelnen Linie gleich ist. Die assistierenden angeblichen Versuchspersonen gaben einstimmig ein Fehlurteil ab, dem sich die VP oft anschloß, obwohl in einem Kontrollexperiment nachgewiesen werden konnte, daß die Aufgabe eindeutig fehlerfrei zu lösen ist.

 

1.4. Autoritätseinfluß

Ebenfalls verstärkt sich die Suggestion, wenn sie von einer anerkannten Autorität ausgeht. Ich nehme an, Du kennst das als Abraham-Test in die Geschichte eingegangene Stanley-Milgram-Experiment. Falls nicht, möchte ich versuchen, dieses umfangreiche Experiment zusammenzufassen, welches zwischen 1960 und 1970 in vielen Ländern durchgeführt und durch das Aufwerfen ständig neuer Fragen in 17 weiteren Testreihen modifiziert wurde. Die Ausgangsidee bestand darin, daß durch fingierte Losentscheidung zwei Personen in »Lehrer« und »Schüler« eingeteilt wurden, so daß die wirkliche VP immer zum »Lehrer« wurde, der »Schüler« war ein assistierender Schauspieler; dem »Lehrer« wurde erklärt, daß der Gegenstand des Experimentes in der Frage besteht, ob durch Stromschläge das Lernen verbessert wird, wenn Fehler sofort bestraft werden. Der »Schüler« wurde an Elektroden festgemacht, am Sitz festgeschnallt, damit er sich nicht zu stark aufbäumt, und der »Lehrer« saß vor einem Schock-Generator, mit dem er Stromschläge ausführen konnte. Er sollte bei falsch gelernten Wortpaaren die Spannung jeweils in 15 V-Schritten zunehmend erhöhen bis maximal 450 Volt. Im Raum war noch ein Versuchsleiter anwesend. Was der »Lehrer« nicht wußte: daß er die eigentliche VP war (er dachte, der »Schüler« sei die Versuchsperson), daß keine Spannung anlag (aber der schauspielende Schüler mit Zuckungen und Schreien die Stromschläge imitierte) und daß die eigentliche Untersuchung der Frage galt, wann und unter welchen Bedingungen sich der »Lehrer« weigert, weitere Schocks zu verabreichen. Wenn der »Schüler« protestierte oder flehte aufzuhören und der »Lehrer« sich fragend an den Versuchsleiter wendete, übte dieser sanften Druck aus: »Es wäre schön, wenn Sie fortfahren«. Machte der »Lehrer« viermal den Versuch abzubrechen oder äußerte Zweifel am Sinn, dann sollte das Experiment beendet werden und man hätte festgehalten, bei welcher Spannung die Weigerung erfolgte. Ansonsten wurde der Versuch bei Erreichen der Höchstspannung als beendet erklärt. Danach fand ein Auswertungsgespräch statt. Die Resultate der ersten Versuchsreihen waren ernüchternd: 70 % der VP waren so gehorsam, daß sie bis zur Höchstspannung gingen. Die 30 % derer, die vorher abbrachen, lagen immerhin zwischen 300 und 450 Volt. War noch eine bereitwillige andere Person anwesend, die den Schock-Generator betätigte, und die VP dirigierte nur die Verabreichung, gab es nahezu keine einzige Weigerung.

Von den Variationen, die die Weigerung stimulieren sollten, ergaben folgende zwei auffällig andere Resultate: Wenn der Versuchsleiter das Zimmer verließ und die Anweisung nur unter Telefonkontakt gab, sank der Gehorsam, bis auf 450 Volt zu gehen, auf 20 % und noch stärkere Verweigerung (10 % Gehorsam) ergab sich, wenn eine andere anwesende angebliche Versuchsperson sich der Fortführung widersetzte.

Das Milgram-Experiment erlangte große Popularität, weil der damit erwiesene Fakt, daß fast alle Menschen bereit sind, andere in höchste Lebensgefahr zu bringen (oft wurde fälschlich zu foltern oder zu töten behauptet) zur spektakulären Untermauerung aller denkbaren Theorien genutzt wurde. Während Milgram mit diesem Experiment seine behavioristischen Positionen beweisen wollte, interpretierte die Liga der Triebdogmatiker die Ergebnisse als Beleg für angeborene Aggressionslust. Die Massenmedien verkündeten, daß in jedem Menschen ein Mörder steckt, und Fachmagazine meinten u.a., daß die Duldung durch Vorgesetzte wichtige Kontrollmechanismen der Psyche ausschalte.

Beeindruckend ist durchaus an diesem wie auch an anderen behavioristischen Experimenten, daß sie belegen, in welchem Maße der Mensch seine Individualität überschätzt, denn im Ernstfall handeln fast alle ähnlich. Das wollte Milgram auch zeigen, dabei wollte und mußte er, um das Experiment zu objektivieren, alle Inputs, wie die Anweisungen des Versuchsleiters, die Schreie der »Schüler« in Abhängigkeit von der Voltzahl usw., genau standardisieren, damit die Outputs meß- und vergleichbar sind. Die VP wurde damit zur Black Box. Unbefriedigend daran ist, daß nur die Relation zwischen Input und Output ermittelt wird; die Mechanismen, die in der Black Box stattfinden, bleiben weiterhin im dunkeln. Doch gerade erst die Antworten auf die Fragen: welche a priori vorhandenen Triebkräfte werden durch die Inputs zur Auslösung gebracht oder blockiert, könnte uns einen Blick in das menschliche Wesen und die wichtige Problematik, welche Dynamik biologischer und welche kultureller Herkunft ist, gewähren.

Ohne das Experiment hier auswerten zu wollen, kann man zumindest im Zusammenhang mit dem Phänomen Suggestion folgendes festhalten: Die häufig gegebene Interpretation, daß der Mensch unter Billigung von Autoritäten seiner Aggression freien Lauf läßt, ist hiermit nicht erwiesen. Außerdem müßte die Aggression unterteilt werden:

-         ist es eine, die sich erst im Versuch, eventuell durch Ängstigung der VP, aufbaut?

-         ist sie kulturell erworben durch permanente vorangegangene Frustration?

-         ist sie genetisch bedingt durch angeborenen Aggressionstrieb?

Wenn die letzte Mutmaßung als Interpretation herangezogen wird, zeugt das in erster Linie von oberflächlicher Versuchswahrnehmung. Eine Oberflächlichkeit, die ihre Ursache im Wunschdenken der repressiven Ideologie hat, der Mensch sei eine Bestie, die erst durch Disziplinierung und geeignete Kontrollmechanismen zivilisiert werden muß, und die der Hoffnungslosigkeit, daß eine bessere Welt Utopie sei, den Beweis liefern will. Denn das Experiment kann nicht richtig interpretiert werden ohne Berücksichtigung des konkreten Benehmens der VP während der Tests und der Äußerungen im Auswertungsgespräch. Auch wenn sich solche Indizien nicht als quantitative Meßwerte erfassen lassen, führen erst sie zum richtigen Verständnis. Es sind z.B. die nervösen Störungen, die die meisten »Lehrer« hatten, Ausdruck unsagbarer Peinlichkeit: Schweißausbrüche, Lachkrämpfe, erhöhter Blutdruck bis hin zur Notwendigkeit dringender medizinischer Hilfe. Das Ausmaß, in dem die »Lehrer« litten, erlaubt keinesfalls den Schluß, sie hätten Lust am Quälen. Viele VP wurden während des Experiments zunehmend irritiert, klammerten sich an den Versuchsleiter und wollten das, was sie als seine Erwartungshaltung glaubten, nicht enttäuschen. Im anschließenden Gespräch reflektierten die »Lehrer«, daß sie sich mehr dem Versuchsleiter gegenüber verantwortlich fühlten als ihren eigenen Taten gegenüber. Sie berichteten von der ganzen Skala aller erdenkbaren Rationalisierungen, die sie sich während des Versuches zur Berechtigung seiner Fortführung ausdachten. (»was man anfängt, muß man auch zu Ende führen«; »als die ersten Zweifel aufkamen war es zu spät, jeder dann erfolgte Abbruch hätte die Richtigkeit der vorangegangenen Schocks widerlegt«; »der Versuchsleiter muß doch wissen, was richtig ist«; »der Schüler hätte sich doch mehr zur Wehr setzen müssen« usw.) Ein Teil der VP war im Nachhinein so stark über sein eigenes Verhalten erschüttert, daß ihm der Einblick in die eigenen Rationalisierungen ausnahmsweise möglich wurde.

 

Auch wenn das Milgram-Experiment als primäres Ergebnis eine überraschend hohe Einheitlichkeit im Handeln liefert, sollten die (meßbaren) Unterschiede dennoch nicht unberücksichtigt bleiben. Deswegen könnte ein weiterer wichtiger Blick in die »Black-Box« der Frage gelten, inwieweit die im Test gezeigte Disposition der VP zwischen Beeinflußbarkeit und Widerstandsvermögen mit anderen Persönlichkeitseigenschaften korreliert. So wünschenswert es wäre, das dafür Ursächliche bis an seine Wurzeln zurückzuverfolgen, so nachvollziehbar ist auch, daß es dafür heute keinen Auftraggeber gibt. Unabhängig von diesen Kritikpunkten ist mein Fazit aus dem Milgram-Experiment: Der Mensch verfügt — völlig berechtigt — über einen Glauben an das Richtige. Dadurch aber, daß Gesellschaft, Technik und Politik immer komplexer und undurchschaubarer werden, sinkt die Fähigkeit, dieses Richtige zu erkennen. Infolge dessen erfährt der Glaube an das Richtige einen Wandel zum Glauben an offene oder anonyme Autoritäten, also ein Glaube an die Macht, von der die Suggestionswirkung ausgeht.

Unter dem kategorischen Imperativ wird damit diese Macht einer besonderen Verantwortung verpflichtet. Das Paradoxe, daß im Rahmen unserer gesellschaftlichen Spielregeln genau jener, der sich besonders verantwortlich zeigt, nicht an die Macht gelangt, demonstriert, wie veränderungsbedürftig unsere Spielregeln und deren treibende Kräfte sind.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Verhältnis der offenen Autoritäten (Vater, Lehrer, Pfarrer, König, Polizist, Politiker) immer stärker zugunsten der anonymen Autoritäten (Konformismus und Mode, Massenmedien, öffentliche Meinung, sozialadäquate Verhaltensmuster und statusgemäßer Kunstkonsum) verschoben. Damit kann die Kunst, die sich öffentlich präsentiert, nicht von dieser Verpflichtung zur Verantwortung freigesprochen werden, als wäre sie etwas Privates.

 

1.5. Hypnose und posthypnotische Aufträge

Am extremsten sind die Suggestionserfolge während der Hypnose oder als posthypnotische Aufträge. Hans Eysenck hat eine umfangreiche Serie solcher Versuche gemacht, um festzustellen, wie weit der Hypnotisierte mitgeht. Es war kein Problem, einen Soldaten dazu zu bringen, seinen vorgesetzten Offizier zu erwürgen — zwei Hilfspersonen mußten ihn unter Aufbringung aller Kräfte davon abhalten. Die Frage ist nicht, wie falsch, unmoralisch oder verbrecherisch die Tat ist, sondern wie gut man sie der VP plausibel macht.

Bei posthypnotischen Aufträgen — d.h. die VP wird hypnotisiert; ihr wird dabei ein Auftrag gegeben, den sie auf ein festgelegtes Signal hin ausführen soll; befohlen, daß sie die Hypnose vergessen soll; aus dem Trancezustand geweckt, und irgendwann gibt dann der Hypnotiseur das Signal — wird die Erfindungsgabe der VP gefordert, bevor sie die Tat begehen kann. Denn der Mensch kann es je nach dem Maß seiner Selbstreflexion kaum dulden, irrationale Handlungen zu begehen. Die Handlung muß immer als das Resultat einer logischen Kette, die irgendwo in objektiven Sachzwängen ihren Ausgangspunkt gefunden hat, erscheinen. Eysenck hat folgendes Experiment durchgeführt: Eine VP soll nach dem Aufwachen auf ein leises Pfeifen hin in den Korridor gehen, einen Schirm hereinbringen und ihn mitten im Zimmer aufspannen. Zu beobachten ist, daß die VP nach Ertönen des Pfeifens sich auf das Gespräch nicht mehr konzentrieren kann, abwesend erscheint und das Gespräch auf die Unsinnigkeit des Aberglaubens lenkt, es würde ihr z.B. nichts ausmachen, im Zimmer einen Schirm aufzuspannen, was doch eigentlich großes Unglück bedeutet ..., bevor sie in den Korridor ging.  Ebenso zog eine VP eine volle Show ab: was doch heute für lahme Zeiten seien, ja früher, da gab es noch Idealisten, da waren wir im Revolutionsfieber und sprangen auf den Tisch und riefen »Es lebe Mao!« Sagt′s und tat′s — man hatte ihr den posthypnotischen Auftrag dazu gegeben. Das Bemerkenswerte ist, mit welch überzeugender Nachvollziehbarkeit solche Handlungen eingefädelt werden. Man nennt diesen Mechanismus Rationalisierung.

 

1.6. Rationalisierung

Der größte Teil der uns treibenden Motivationen im täglichen Leben hat keinen vernünftigen (rationalen) Ursprung, sondern dient zur Befriedigung verdrängter Komplexe (Sadismus, Masochismus, Nekrophilie, Konformismus, Narzißmus ...). Da diese uns völlig unbewußt bleiben müssen, können die zur Befriedigung daraus erwachsenden Motive eben daraus nicht  erklärt werden. Der Mensch gerät somit in ein Spannungsfeld: einerseits steigt aus dem Unbewußten ein Motiv auf, welches befriedigt werden will, und andererseits verbietet die Selbstreflexion des vernunftbegabten Menschen diese irrationale Handlung, solange sie ihm nicht plausibel ist. Nun wird, ausgehend vom Motiv über Assoziationen kausalen Charakters eine Kette zu irgendeinem Sachverhalt, der objektiv und nachprüfbar ist, geknüpft, und erst wenn dieser im befriedigenden Maße gefunden ist, taucht er ins Bewußtsein auf und die logische Kette spult sich zurück zum Motiv, das dann als Konsequenz erscheint und verwirklicht werden kann. Diese Rationalisierung ist somit die Vertauschung von Ursache und Wirkung, denn der Betreffende glaubt, die Ursache für die Handlung liege im gefundenen Grund, aber in Wirklichkeit ist die Begründung das Resultat der beabsichtigten Handlung.

Solcherart hergestellte Begründungen, die im täglichen Leben den Ausführenden selber als logische Konsequenzen erscheinen, werden oft von anderen als faule Ausreden durchschaut. Warum im Streitfall die betreffende Person sich hartnäckig auf den nachprüfbaren objektiven Sachverhalt beruft, aber bei der genaueren Überprüfung der logischen Kette gereizt reagiert, kann durch den hier postulierten Vorgang der Rationalisierung zwar gut erklärt werden, ist aber noch kein sicherer Beweis für den Vorgang des Rationalisierens. Jedoch solche wie die im Vorfeld genannten Beispiele posthypnotischer Aufträge scheinen mir eine geeignete empirische Methode zu sein, den Mechanismus der Rationalisierung zu beweisen. Denn diese Aufträge sind in gleichem Maße unbewußt und irrational wie die vorgenannten Motive, nur im Unterschied zu denen ist ihre Irrationalität durch den Akt des künstlichen Einpflanzens bezeugbar. Man könnte z.B. in einem angenehm kühlen Behandlungssaal die VP posthypnotisch auffordern, erst ihre Jacke auszuziehen und daraufhin das Fenster zu öffnen. Wichtig wäre das Hinzuziehen von Beobachtern, die während und nach der Hypnose anwesend sind und den Vorgang der Motivimplantation bezeugen können und außerdem Beobachtern, die erst nach dem Aufwachen hinzukommen, die anschließend in Bezug auf Plausibilität oder Auffälligkeit des Verhaltens der VP befragt werden. Schrittweise könnte man die Aufträge absurder machen und dabei den Mechanismus des Rationalisierens studieren. Bisher habe ich nichts von solchen Untersuchungen gehört oder gelesen. Leider. Wäre das Prinzip der Rationalisierung Bestandteil der Allgemeinbildung, würde die Suggestierbarkeit der Massen viel geringer sein, würden die Machtmenschen und Politiker besser durchschaut werden, würde die eigene Bereitschaft zum Gehorsam eher erkannt werden können, wäre die nackte Gewalt wirklich nackt und so mancher Krieg seines vorgeschobenen Grundes beraubt, und vor allem würden 90 % des Konsumierens wegbrechen. Rationalisierungen beschränken sich keinesfalls auf einzelne Personen; hat die ganze Gesellschaft gleiche irrationale Motive (wovon auszugehen ist), werden sie über Generationen hinweg kollektiv optimiert zu komplexen ideologischen Bauwerken, ja, zum zentralen Teil der herrschenden Kultur. Die Kultur, das sind vor allem die Spielregeln der Erzeugung und Befriedigung von Bedürfnissen. Und gerade weil wir weder die wirklichen physischen, psychischen und gesellschaftlichen Bedürfnisse des Menschen kennen und kennen wollen, können die Bedürfnisbefriedigungsindustrie und ihre Reklame solche absurden Erfolge feiern. Reklame könnte ja auch darin bestehen, die tatsächlichen Vorzüge des Produktes aufzuzählen, aber das ist antiquiert. Heute geht es darum, auf der dumpfen Gefühlsebene zu operieren und zur Beseitigung der letzten Bedenken dem Reklameopfer die nötigen Rationalisierungen zu liefern, damit der Kaufwunsch freie Bahn bekommt.

Nun ist es eine bedeutende Frage, ob wir unsere eigenen Rationalisierungen durchschauen können. Welche Mittel haben wir?

Bildung? Ist kaum hilfreich, denn ein großer Teil der kollektiven Suggestions- und Rationalisierungsleistungen ist intensiv mit unserer Bildung verwoben, und außerdem ist der Unterschied zwischen lernfähig und indoktrinierbar nicht allzu groß.

Intelligenz? Je intelligenter der Mensch ist, desto raffinierter sind seine Rationalisierungen. Also, man kann es kaum. Vielleicht sollten wir uns deswegen wieder angewöhnen, sich gegenseitig die Meinung zu sagen, auch wenn das in der flexibilisierten Gesellschaft, der der Austausch menschlicher Beziehungen mehr entspricht als deren Aufrechterhaltung, überflüssig erscheint.

 

1.7. Popkultur

Die größten wirtschaftlichen Suggestionserfolge feiert wahrscheinlich die Unterhaltungsindustrie. Daß der Aufstieg von Pop-Musikern wie ABBA, Modern Talking, Michael Jackson fast vollständig und von solchen wie Lang Lang, David Garrett zum großen Teil auf Massensuggestion zurückzuführen sind, ist klar. Warum sollte man eigentlich nicht auch einige zeitgenössische bildende Künstler mit in diese Reihe stellen können?

Ich glaube aber, daß die Mechanismen hier viel komplizierter sind. In der Popmusik wirkt eine lineare Suggestion vom Produzenten über die Massenmedien auf das Publikum, welches dann geneigt ist, sich zum auserkorenen Star zu bekennen, um somit eigene Identität zu erlangen. Dabei ist die Beziehung zum Star (also ob man die Musik versteht, begründet wertschätzt usw.) viel unwichtiger als die Beziehung zu der Gruppe, die sich auch zu dem Star bekennt. Das gibt der Gruppe und jedem Einzelnen die Identität. Der eigene Musikgeschmack, den man als ursächlich dafür ansieht, ist eher die Folge mehrerer Identifikationen, die der Fan im Laufe seiner Jugend durchlief. Auch diese Musik ist wie ein Logo: je stärker auf das Wiedererkennbare reduziert, desto besser als Gruppenfähnchen, hinter dem man treu marschiert, geeignet. Obwohl das für die Bildende Kunst ebenso gilt, kann das Bekenntnis zwei gänzlich unterschiedliche Intensitäten erlangen: man kann Kunstwerke in Museen und Galerien betrachten und Ergriffenheit spüren, man kann sie aber auch kaufen. Sie verleihen somit dem Eigentümer nicht nur Identität, sondern auch ein Mittel zur Machtdemonstration und können nicht zuletzt auch als Geldanlage fungieren, zu deren Wertsteigerung der Eigentümer, hat er einmal Mittel und Macht, auch selbst beitragen kann. Das heißt, der Konsument bleibt zwar das Opfer einer Suggestion, aber er setzt das Kunstwerk wiederum suggestiv ein. Durch diese Wechselwirkungen, in die auch Galerien, Museen, Auktionshäuser und Kunstjournale involviert sind, ist der Prozeß der Wertschätzungskulmination so stark verzögert, daß ein gleichzeitig produzierter Popsong inzwischen längst vergessen ist.

Daß der suggerierende Effekt nicht auf zeitgenössische Kunst beschränkt ist, wird deutlich, wenn man sich die Touristenströme nach Rom oder Mailand vergegenwärtigt. Die Gegenfrage: Ist denn das schlimm? kann man nur mit ja beantworten, weil die massensuggerierende Stilisierung zu Sehenswürdigkeiten ein Teufelskreis ist, der seine Voraussetzungen selbst schafft, nämlich dergestalt, daß der Rest als nicht des Sehens würdig gilt und durch die damit einhergehende Vernachlässigung tatsächlich dieses Faktum hergestellt wird. Mag das zugespitzt erscheinen, da es ja auch im Erzgebirge Sehenswürdigkeiten gibt, gilt trotzdem das gleiche Prinzip: die einfache Umgebung wird übersehen und nimmt durch Mißhandlung den Wert ein, den man ihr zubilligt. Unerträglich unästhetische Fußwege und Haltestellen abseits vom Chrom-und-Glas-Bombast in den Städten; Felder werden bis an das Waldrandgestrüpp gepflügt, so daß kein Fußweg bleibt; doch Feldwege werden gepflastert, um sie dem flotten Autoverkehr zugänglich zu machen. Jemand, der sich, einer nützlichen Tätigkeit nachkommend, von einem Dorf zum anderen zu Fuß, mit Fahrrad oder Handwagen bewegen will, erlebt, daß er als einfacher Mensch nichts wert ist. So begegnen sich in haßerfüllter Tristesse der wertlose Mensch und die wertlose Umwelt und sind doch eigentlich das Echte. Als Trostpflaster bleibt dem Menschen aber in der Rolle als beliebter Tourist noch eine Reise nach Rom.

 

1.8. Suggestion in der Malerei

Doch zurück zur Suggestion in der Bildenden Kunst, speziell der Malerei! Ich möchte vier Aspekte voneinander unterscheiden.

 

1.8.1. Die wirkliche Suggestivkraft eines Bildes

Ein Gemälde muß schon sehr uninspirierend sein, damit der Betrachter nicht mehr zu spüren glaubt, als wirklich drauf vorhanden ist. Lassen wir einmal die phantasiebegabte Flächengestaltung, die 95 % der abstrakten Malerei ausmacht, beiseite, kann der bessere Rest mit einer bemerkenswerten Suggestivleistung aufwarten.

Die Raumtiefenillusion schafft z.B. Heino Naujoks überzeugend. Nicht nur durch die Überschneidung der einzelnen Farbfladen wird der Raum durchgängig bis nach hinten gestaffelt, sondern viele dieser Kleckse und fetten Pinselstriche selbst scheinen durch ihre Form und Strukturierung nicht vertikal zu stehen, sondern horizontal zu schweben. Darüber hinaus geht der Blick zwischen diesen scheinbar dreidimensionalen Gebilden nach hinten in eine unendliche Weite. Seine früheren Werke sind von noch heftigerer Geste geprägt. Man kann dort wie auch bei manchem Abstrakten Expressionisten wunderbar nachvollziehen, mit welcher Geschwindigkeit die Farbe hingepeitscht wurde und welcher Konzentrationsakt vorher notwendig war.

Wie man auf Bildern von Detlef Kappeler sieht, können Farbflächen so ins Bild gebracht werden, als würden sie sich berstend ausbreiten.

Es gibt noch mehr Möglichkeiten: man kann sogar den Unterschied malen zwischen verbogen und gebogen; biegt man ein Kupferrohr und läßt es los, bleibt es so — ein Glasfiberstab dagegen schnellt zurück. Das Gebogene hat einen ganz spezifischen Krümmungsverlauf, dem man das Potential zur Bewegung ansieht. Das Potential zur Bewegung: zum Absprung, zum Ausbruch oder zum Zerbrechen, das ist die Spannung. Andererseits können Flächen so angeordnet sein, daß sie auf eine dazwischenliegende einen Schub ausüben, diese fast zerquetschen: ins Bild kommt eine Kompression, ein innerer Druck. Dadurch, daß sich durch kompositorisches Kalkül und malerische Mittel Phänomene wie Raumtiefe, Geschwindigkeit, Druck, Spannung usw. suggerieren lassen, erlangt schon ein abstraktes Bild Dimensionen und Eigenschaften, über die es physikalisch eigentlich gar nicht verfügt.

Noch viel stärker erweitern sich diese suggestiven Möglichkeiten im Bereich der Landschafts- oder der figürlichen Malerei. Artemisia Gentileschis Bild »Judith enthauptet Holofernes« besitzt eine phantastische Plastizität durch die Verwendung von Beleuchtung und Schatten. Im Zusammenhang mit der Interpretation des Geschehens, in erster Instanz auch ohne jeden metaphorischen Gehalt, können die verwendeten Farbanordnungen, Deformierungen und Körperhaltungen — gerade in ihrer Diskrepanz zum Realistischen eine Stimmung suggerieren, die sich auf den Betrachter überträgt. Noldes Bild »Die Kerzentänzerinnen« schafft durch seine psychisch-expressive Malerei eine Extase, die der Betrachter empfindet und nicht weiß, er kann sie auch nicht wissen, denn es gibt — und das ist die Stärke des Bildes — keinen mythologischen Stoff dazu, an dem es sich aufzuwerten versuchte.

Nun soll das nicht heißen, daß ein mythologischer oder im Allgemeinen jeglicher narrativer Gehalt abzulehnen sei. Im Gegenteil, wenn das Bild über den Fakt hinaus, daß es im Abstrakten ein starkes Bild ist, auch noch eine Geschichte erzählen kann, ist man schon fast am Optimum dessen, was Kunst vermag — allerdings hängt das noch von der Aussage der Geschichte ab. Aber diese Geschichte, wenn sie zweifelsfrei (den Betrachter im Zweifel zu lassen, halte ich nicht für eine starke Leistung) entschlüsselt werden kann, hat schon nichts mehr mit Suggestion zu tun, sondern was hier stattfindet, ist Erkenntnis.

 

1.8.2. Die Schaffung von Respekt durch Verstörung

Hier kann nun das über Konditionierung des Rezipienten, Suggestierbarkeit und anschließende Rationalisierung Dargelegte zur Anwendung gebracht werden.

 

Es ist natürlich immer noch der größte Teil der Menschheit, der vor moderner Kunst völlig unbeeindruckt steht und meint, das sei Unsinn. Aber dieser Teil hat kein Mitspracherecht und legt auch keinen Wert darauf. Schade an sich, denn bei ihm wäre noch einiges zu retten. Weniger zu retten ist bei jenen, die fast alles toll finden. Denn es ist viel leichter, denen, die die moderne Kunst eigentlich ablehnen, klar zu machen, worin die Größe von Kandinsky, Franz Kline oder Emil Schumacher besteht, als jenen, die von irgendetwas begeistert sind, zu vermitteln, daß das eigentlich Mist ist. Das ist psychologisch belegbar und im Test überprüfbar: Man kann VP quälen und ihnen dann abverlangen, anderen VP diese Prozedur mit voller Begeisterung schmackhaft zu machen; besticht man dafür eine Hälfte dieser VP mit einem Geldbetrag, erinnern diese sich später an die Qual, während die Nichtbestochenen später meinen, begeistert gewesen zu sein. Das ist eigentlich ganz klar: wer nutzlos leidet, verdrängt das Leiden viel stärker als der, der noch etwas davon hat. (Darum wählen die Arbeiter auch eher die CDU als die PDS.) Und deswegen ist jemand, der grundlos begeistert — also irrational motiviert — ist, kaum einer objektivierenden Argumentation gegenüber aufgeschlossen, sondern im Gegenteil, er wird seine Affekte rationalisieren. Aber kann denn jemand begeistert oder wohlwollend einer Sache gegenüberstehen, die gar keinen Grund dafür bietet? Ja, selbstverständlich, das sind doch die ganz normalen Konventionen, in denen wir aufwachsen und unser Rollenspiel erlernen. Man muß sich einfach nur einen mäßig ehrgeizigen und anpassungsbereiten Abteilungsleiter vorstellen, der von seinem Chef zu einer Tagung geschickt wird — das erste Mal. Es erfüllt ihn mit Stolz aber auch mit Angst. Das Fachliche ist für ihn vielleicht die kleinste Übung, aber das »Vergnügliche« danach: Er wird heimlich in alle möglichen Richtungen schielen, um herauszufinden, wie man sich richtig auf dem glatten Parkett und am überladenen kalten Buffet benimmt. Mag das auch etwas unangenehm sein, er wird den Unsinn der Spielregeln kaum hinterfragen und wenn er später dann etliche solcher Tagungen hinter sich hat und die Normen im Detail kennt, wird ihm das das Siegergefühl der Auserwählten geben, und er würde solches Verhalten anderen Neulingen genauso abverlangen.

Der heutige Kulturbürger ist viel stärker konditioniert als er denkt, es fällt nur nicht auf, da fast alle dasselbe machen. Es erscheint ein Signal und die Spielregel gibt vor, wie man reagieren muß. Doch wäre es damit getan, würden sich die Hierarchien nivellieren. Deshalb haben sich die, die die Macht haben, noch etwas hinzu einfallen lassen: die Spielregeln müssen im stetigen Wandel begriffen sein.

Signale können, um wieder zur Kunst zu kommen, auch irgendwo ausgestellte Kunstwerke sein. Um als Signal zu fungieren, müssen sie nicht das entschlüsselbare Geheimnis aufweisen, welches eine Erkenntnis liefert. Es reicht, wenn sie so tun — und das tun nicht wenige. Ja, mir scheint, daß genau das der derzeitig kultivierte Trend ist: andeutungsreich, aber in einem solchen Maße unverständlich, daß sie unantastbar werden. Wenn dann noch der Fakt hinzutritt, daß die Kunstwerke ästhetisch abstoßend auf den Betrachter wirken, also sinnlich keinen Zugang bieten, bleibt dem Betrachter, wenn er zu den kultivierten Menschen gezählt werden will, kein anderer Ausweg: ehe er sich als Trottel präsentiert, der ein Werk nicht versteht, wird er des Werkes Bedeutung verspüren, keimt in ihm eine Interpretationsmöglichkeit, in die er sich hineinbegeistert, und er wird diese Begeisterung auf das Werk übertragen. Diese Verzweiflungstat ist manchmal der kreativste Akt im Zusammenhang mit dem Werk. Ist ihm diese kreative Fähigkeit versagt, bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, wie unser Abteilungsleiter nach links und rechts zu schielen, und mit der Zeit geht es ihm dann ganz locker von der Zunge: »echt witzig« oder eher mit bewunderndem Kopfschütteln: »Wahnsinn«. Damit wird er selbst zum Trendsetter doch die hauptsächlichen Meinungsmacher sind nicht diese Rezipienten. Wir finden sie unter den Angestellten in Kulturbüros und Museen und unter Journalisten. Bei denen gibt es — wenn man sich nochmals den letztgenannten Test vergegenwärtigt — Grenzen der objektiven Auseinandersetzung. Alles Kritikwürdige können sie auf Dauer nicht verreißen, das verbieten der Job und die Selbstzensur, die sie um eigene Neutralität bangen läßt. Daher schleicht sich ein Wohlwollen ein, welches die »Kritiker«  sich selbst suggerieren, um sich ihrer Ehrlichkeit zu vergewissern. Verfügt der Kritiker über etwas weniger Autosuggestierbarkeit und mehr Gewissen, versucht er die Sache von beiden Seiten zu sehen. Doch wenn er glaubt, über das Objekt zu referieren, zeigt er nur seinen Konflikt zwischen beiden Rollen, der sich in einer neuen Rolle auflöst: als Pseudo-Dialektiker. Das klingt dann so: »Aber darin besteht gerade die Kunst, daß sie keine ist«.

 

Was kann man unter solchen Bedingungen von einem Künstler, der um seine Existenz kämpft, anderes erwarten, als daß er sich anpaßt. Wenn es dem Rezipienten reicht, daß das Kunstwerk intellektuelle Tiefe vermuten läßt, und der Kritiker dies ideologisch untermauert, und beide in ihrer Verkrampfung soweit gehen, daß sie ein Werk, welches sie wirklich verstehen, als vordergründig und platt-propagandistisch disqualifizieren, dann wird von Seiten der Künstlerschaft viel Widerstandsvermögen und Ehrlichkeit abverlangt, um das nicht zu bedienen. Aber Künstler sind mindestens genauso suggestierbar wie der Rest der Gesellschaft.

 

1.8.3. Die Wertübertragung vom Namen des Künstlers auf das einzelne Exemplar

Als ich eine etwas reichere junge Frau, die drei Bilder von mir gekauft hat, aber von sich eigentlich meint, daß ihr die Leipziger Schule besonders liegt, besuchte, zeigte sie mir völlig enthusiastisch ein Penck-Original an der Wand. Die Hilflosigkeit ihrer beschwörenden Worte über das, was sie angesichts des Bildes erlebt, war peinlich. Gänzlich unverständlich war, welchen Geschmack sie nun eigentlich hat. Es ist also wieder dasselbe: wir wissen, welcher Ruf dem einzelnen Künstler offiziell beigemessen wird, und infolgedessen erzeugen wir — je nachdem, wie wenig ablehnend wir der Gesellschaft und dem Kulturbetrieb gegenüberstehen — die geforderten Emotionen, die von uns letztendlich mehr oder weniger elegant sprachlich rationalisiert werden.

 

1.8.4. Die Wertübertragung vom Präsentationsrahmen auf den Künstler und damit auf das Werk

Wenn man ins Kalkül zieht, wie teuer ein Museumsbau inklusive seiner Unterhaltung ist, wie teuer eine Fernsehminute oder eine Seite in einem Kunstjournal, dann überträgt sich — da diese ja nur als Verpackung fungieren — eine gigantische Wertschätzung auf den eigentlichen Inhalt, nämlich die vorgestellten Kunstwerke, gänzlich unabhängig von deren ästhetischen oder inhaltlichen Qualitäten oder vom Namen des Künstlers.

 

1.8.5. Der Affe und der Star

Die drei letzten Punkte haben nichts mit Kunst selbst zu tun, doch besitzen sie im allgemeinen eine überwältigende Suggestivwirkung, der fast nur die widerstehen, die sich überhaupt nicht für Kunst interessieren oder diejenigen, die den derzeitigen Kunstbetrieb mit seinen politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Hintergründen ablehnen und sich aus lauter Gegenwehr eine wissenschaftliche Kunstbetrachtung aneignen. Es wäre ein leichtes, die Macht dieser drei Suggestionsformen in psychologischen Tests unter Beweis zu stellen, und unbeabsichtigt ist dies auch schon oft geschehen, wenn auch nicht systematisch, nämlich dann, wenn Kunstwerke, ihres Rahmens beraubt, als solche nicht mehr erkannt und beseitigt wurden oder umgekehrter Weise Kinder- oder Schimpansenbildern museale Weihen verliehen wurden. Es fehlt nur an sachlicher Auseinandersetzung damit, und in dieser Spaßgesellschaft findet sich stattdessen viel eher einer, der für drei kleine Bilder des Schimpansen Congo auch noch fast 22 Tausend Euro bezahlt.

 

Insofern unterscheiden sich die drei Suggestionsformen von der erstgenannten: Die erste ist kunstimmanent und unbedingt. Auch ein Betrachter aus einer vollkommen anderen Gesellschaftsordnung würde die in ihr liegende Wirkung spüren, während die drei anderen an Konventionen gebunden sind und ein gewisses Maß an Beeinflußbarkeit voraussetzen.

Durch welche Mechanismen Neo Rauch auf die Ebene der Stars gehoben wurde, ist eine andere Geschichte, aber der Fakt, daß er solche durchgängige Popularität erlangte, ist voll und ganz diesen konventionellen Suggestionsformen zuzuschreiben. Die vermeintlich bedeutungsschweren Bilder, das ständige Wiederholen seiner Wertschätzung in den Massenmedien, die tatsächlichen Fakten seiner wirtschaftlichen Erfolge rufen bei den Rezipienten, wenn sie vor seinen Werken stehen, ein Ergriffensein hervor, von dem sie glauben, es käme von den Bildern. Doch diese sind nur Signalträger, Auslöser; das Ergriffensein ist konditioniert. Die Gefühle sind echt, sie sind ja schließlich da, doch die Ursachen der Gefühle werden falsch interpretiert. Ein maßgeblicher Rauch-Sammler aus Wien weist in einem Interview darauf hin, daß sich nur ein paar einzelnen Menschen auf der Welt die Rauch-Bilder erschließen, zu denen er gehört. Eine notwendige Einbildung, die nicht nur die Geldausgabe rechtfertigt, sondern ihn (für eben jene Gebühr) in distinguierte Höhe hebt.

Die eben gemachte Behauptung vom konditionierten Ergriffensein ist keine rhetorische Übertreibung. Man kann leicht zeigen, wie es gelingt, Reize (oder Signale) mit Affekten zu verknüpfen. Mitchell Gold hat folgendes Experiment gemacht: einer VP wird unter Hypnose eine Schuld klargemacht, wobei der Hypnotiseur einen Finger nach oben hebt. Die VP reagiert mit Schreck und Angst, was sich verliert, wenn ihr klargemacht wird, daß ein Irrtum vorliegt. Dabei senkt er den Finger. Das wird mehrfach wiederholt. Nach dem Aufwachen weiß die VP nicht mehr das Geringste von dieser Schuld, jedoch die Reizverknüpfung bleibt ihr eingepflanzt: Wenn der Experimentator den Finger hebt, zeigen sich auf ihrem Gesicht wieder das ängstliche Schuldgefühl und dann Erleichterung, wenn er ihn senkt. Bei diesem Prozeß ist die Hypnose selbst nicht unbedingt nötig. Sie ist nur effektiv, demonstrativ und vor allem erlaubt sie es, Beobachter in einen neutralen Zeugenstand zu versetzen, so daß sie echte Außenstehende sind. Aber zur eigentlichen Konditionierung ist der hypnotische Trancezustand nicht erforderlich, die Suggestierbarkeit des Menschen im typischen Halbwachzustand seines Tagesgeschäftes ist ausreichend. Unser heutiger Kulturbetrieb mit all seinen angeschlossenen Massenmedien wirkt wie ein umfassendes Hypnosemanöver mit dem Hauptunterschied, daß es kaum Außenstehende gibt — und wenn, dann ist es Bestandteil der konditionierenden Spielregeln, daß diese nicht wahrgenommen werden.

 

1.9. Die Alchemie des Kulturbetriebes

Es gibt — egal ob es sich um Fragen der eigenen Mitschuld in der Vergangenheit handelt oder um lächerliche Konsumwünsche, die aggressive Außenpolitik des eigenen Landes, die naturzerstörerische Kehrseite unseres praktizierten Luxus′, aber eben auch was die moderne Kunst betrifft — massenhaft Menschen, egal aus welcher sozialen Schicht, die betrogen werden wollen. Und wer sind, wenn es sich um Malerei handelt, die Betrüger? Die Künstler, die Galeristen, die unkritischen Journalisten, das ganze Kulturmanagement? Bevor man den Vorwurf an die Künstler richtet, kann man auch in dieser Frage eine Analogie zur Wissenschaft und besonders zur Medizin herstellen: Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, die, von außen betrachtet, als Fälscher und Hochstapler in Erscheinung treten, einige haben sogar die Nobelpreiskandidatur erlangt. Ich will nicht abstreiten, daß darunter auch Kriminelle, die vorsätzlich handeln, sind, doch vielen geht es wie Strapinski in »Kleider machen Leute« von Gottfried Keller: Sie werden in ihre Rolle hineinmanövriert, und wenn sie ihr eigenes Zutun und dessen Eigennutz gut verdrängen können, ist deren Scharlatanerie unbewußt, vielleicht sogar unbeabsichtigt. Nun hat die Welt in Wissenschaft und Technik die Forderung etabliert, Ursache-Wirkungs-Beziehungen reproduzierbar darzustellen, um damit Behauptungen einer Überprüfung zugänglich zu machen. Und darüber hinaus gibt es noch die Anwendung in der Praxis als Beweiskriterium. In technischen Belangen alliieren sich eben die Bestrebungen nach Gewinn, Schadensvermeidung und manchmal auch Dauerhaftigkeit, so daß nicht jeder Humbug in die Tat umgesetzt wird. Fehler werden durch die Folgen recht schnell bestraft. Das war nicht immer so. Die in der Blütezeit der Alchemie und bis zum Ende des 18. Jh. produzierten skurrilen, aber auch nicht unschädlichen Phantastereien waren eine Selbstverständlichkeit. Deren Verbreitung war eine Frage der Einflußmöglichkeiten und nicht der Beweisbarkeit. Es wäre kaum jemandem eingefallen, Hüter der richtigen Erkenntnisse zu spielen, weil die ganze Angelegenheit technisch und wirtschaftlich noch irrelevant war. Nur mal ein Beispiel aus einer »wissenschaftlichen« Lektüre von vor ca. 200 Jahren: »Im Erdinneren sind Gedärme und Adern, die das Gestein verdauen und zu Pflanzen zersetzen. Es ist nur allzu plausibel, denn die Welt hat die Natur nach dem Vorbild des Menschen geschaffen.« (Wo lebte denn der Mensch vor Erschaffung der Natur?) Man kann es sich heute kaum vorstellen, daß sich das die wissenschaftliche Fachwelt vor noch nicht allzu langer Zeit gefallen lassen hat. Tja, die großen Hoffnungen, die man in die Alchemie gesetzt hatte, verboten alle Kritik.

Inwieweit unterscheidet sich die Situation im heutigen Kulturbetrieb davon? Oder darf man die Frage nicht stellen? Warum nicht? Weil Kunst etwas ganz anderes ist? Ja, was ist sie denn? Egal von welcher Seite aus man fragt, nur ein bißchen konsequent und schon ist man unbequem. Aber ich will den Gedanken noch mal wiederholen:

Kann es sein, daß

- durch Künstler, denen Eigenständiges fehlt und die glauben, die Gesellschaft trüge die Forderung, sich philosophisch zu äußern, an sie heran, der sie trotz Inkompetenz gehorchen wollen, wobei dann diese andeutungsreichen Sinnlosigkeiten entstehen, vor denen Kritiker wie Publikum (wenn einmal die kollektive Akzeptanz geschaffen wurde) gleichermaßen den Hut ziehen und dabei krampfhaft nach einer Begründung suchen, warum sie das Nichtverständliche dennoch gut finden

- durch die Kritiker wiederum, die für diese Begründungen Geld bekommen und

- durch den eventuellen Käufer, der, wenn man es nur in erster Instanz sieht, auch nicht der Betrogene ist, weil sein Kaufmotiv nicht darin bestand, sich an der Schönheit des Werkes zu erfreuen, sondern daß das Werk ihm, dem Käufer, Identität verleiht, indem er sich und anderen klar macht: Er ist der, der sich das leisten kann und ein Defizit an Schönheit und Verständlichkeit kommt seiner psychischen und wirtschaftlichen Motivation deswegen entgegen, weil für ihn das Kunstwerk auch die Funktion hat, Mitmenschen zu beeindrucken und zu unterjochen, und je teurer und absurder ein Werk ist, desto tiefer stürzt es den Betrachter hinab — also noch einmal:

Kann es sein, daß durch alle Beteiligten ein umfassendes Kunst-Kulturmilieu reinster Scharlatanerie etabliert und reproduziert wird, in das jeder, eben auch jeder Kunststudent, so nahtlos eingegliedert wird, daß es verständlich ist, wenn er nicht dagegen rebelliert, weil er gar nichts Gegenteiliges kennt? Kann es sein, daß wir solche Verhältnisse im Augenblick haben? ..., daß es uns als Mitschuldigen an Ehrlichkeit mangelt, das einzugestehen? ..., daß wir uns ohne dieses Eingeständnis gar keine anderen Verhältnisse ausdenken wollen und können? ..., daß wir deswegen Kunstwissenschaftlichkeit und Objektivität ablehnen und einen subjektivistischen, individualistischen und narzißtischen Standpunkt einnehmen? Und kann es sein, daß wir damit in erster Linie diejenigen unterstützen, die uns unterjochen wollen?

Auch wenn man nicht alle dieser Fragen bejahen würde, gibt es Fakten, die für eine systematisch geführte Kunstwissenschaft sprechen, nicht nur des wirklich spannenden Erkenntnisgewinns, sondern auch politischer Gründe wegen, damit diesem Teufelskreis aus Verunsicherung → Beeinflußbarkeit → deformierter Wahrnehmung und Bildungskonsum → Inkonsistenz und Hohlheit der Weltanschauung → Verunsicherung ... etwas entgegengesetzt werden kann. Denn Kunst nimmt seit Mitte des Zweiten Weltkrieges immer mehr Bedeutung in der mentalen Beherrschung des Menschen ein. Eine Bedeutung, die schon ins Monströse geht: wenn man sich die gezahlten Preise für Kunstwerke und die tempelhaften Museumsbauten vergegenwärtigt; grotesk oft auch wegen der Diskrepanz zum geringen Herstellungsaufwand mancher Kunstwerke (Lucio Fontana, Jackson Pollock, Jasper Johns, Robert Ryman) und das viele bedruckte Papier in Büchern, Journalen, die Stipendien, Preise, Reden usw., hat man schon einen beachtlichen Eindruck davon, wie weit sie ins öffentliche Leben gepreßt wird. Ich meine allerdings nicht, daß das alles von »oben« gesteuert wird, sondern an der Steuerung nehmen viele teil. Obwohl, oder weil, die eigentlich wichtige Frage ist: wohin wird gesteuert und nicht wer steuert? will ich mal ein Beispiel geben, wie die Steuerung hin- und herreflektiert wird: Der Vorstandsvorsitzende einer Bank, hat in seinem Zimmer zwei Bilder von N. Rauch hängen und auch ansonsten »liebt« er die Leipziger Schule. Von seinen Mitarbeitern wird er bewundernd als Kunstnarr bezeichnet. Ich persönlich gewann das Gefühl, daß er sich überhaupt nicht für Kunst interessiert, sondern es eher als eine Pflicht ansieht, mit der er sich auseinandersetzen muß. Warum muß er? Gelingt es etwa den Künstlern und Galeristen, Macht auf Spitzenbanker auszuüben? Das führt uns zu den sowieso etwas verzwickten Fragen: Wer hat denn die Macht? Wo ist sie lokalisiert? Und auf welchen Wegen wird sie transportiert? Selbst Michel Foucault stöhnte: »Das ist ja das Dilemma unserer Suche nach der adäquaten Kampfform, daß wir über keine Theorie der Macht verfügen.« Das hatte mich übrigens verwundert, denn ich hätte in erster Näherung das Modell einer x-fach gekoppelten Schwingung unzähliger Schwinger aus der physikalischen Mechanik entlehnt. Insofern ist auch der Vorstandsvorsitzende gezwungen, seine Macht auf eine ganz bestimmte Weise auszuüben. Soweit das Beispiel. Es soll nur verdeutlichen, daß, wer die Macht haben und behalten will, sich mit Kunst zeigen muß. Soviel Macht und Wichtigkeit hat die Kunst. Steht das nicht im Widerspruch zu dem vorher skizzierten Bild von der Technik einerseits, die ihre Seriosität aus dem Ernst der Konsequenzen zieht und andererseits der Kunst als Tummelwiese für Scharlatane, die ihren Spleen ungestraft ausleben dürfen, weil die Kunst keine meßbaren Konsequenzen hat und deswegen sowieso irrelevant ist? Nein, gerade daß sie nicht ernst genommen wird, tut ihr keinen Abbruch; erst der Blödsinn gibt ihrer Rolle, die sie zur Erhaltung unseres Wirtschaftssystems zu spielen hat, den tierischen Ernst. Und das auf mehreren Ebenen.

 

1.10. Die Kunst als Mittel der Verstörung

1.10.1. Identität des Eigentümers und seine Machtmanöver

Wie schon gesagt: der Eigentümer kann mit dem Kunstwerk gegenüber Kunden, Partnern, Angestellten, Politikern oder anderen, auf die er Einfluß ausüben will, seine Originalität zur Schau stellen und der Behauptung, er verstünde etwas, was sie nicht kapieren, Ausdruck verleihen. Wenn das Werk diese Funktion erfüllen soll, muß es absurd und andeutungsreich und eher lapidar als pathetisch sein. Ein Bild von Delacroix z.B. erfüllt das gerade nicht und hätte er das, würde man denken er sei ein reicher Liebhaber. Leistet er sich aber für den gleichen Preis einen verfaulten Kuhkopf mit zwei Latexhandschuhen und kann die Geldausgabe glaubhaft vermitteln, dann bleibt nur die Feststellung: der muß wahnsinnig reich sein, wenn er für soetwas Geld übrig hat. Doch die Verarbeitung dieses Gedankens erfolgt auf zwei verschiedenen Ebenen: der Stich geht ins Herz und demütigt wirkungsvoll aber nicht ins Bewußtsein, so daß mancher lächelnd davorstehen mag und sagt: »Toll, was sich unser Chef leistet, das hat irgendwie was, auch Tiefe, ist schon witzig.«

 

1.10.2. Die Akzeptanz des Unlogischen

Es gibt eigenartigerweise eine ganze Reihe von Menschen, die agieren, als hätten sie es zu ihrer persönlichen Aufgabe gemacht, den Staat ideologisch zu unterstützen. Diese landen vornehmlich in der Kulturbranche und sitzen damit an den Schalthebeln der Popularisierung. Man darf dieses Heer, was sich zu Hütern der Absurdität macht, nicht unterschätzen. Es spielt hierbei traurigerweise nicht einmal eine Rolle, ob sie auf der Seite der Macht stehen oder sich in Opposition wähnen. Deren pseudointellektuelle Erklärungen, deren Verständnis und Entzücken für das Nichtverständliche, deren Über-den-irdischen-Dingen-Schweben und deren mediale Bedeutung, die sich manche gegenseitig zuspielen, läßt aus diesem Lager keinen Halt für den ohnehin verunsicherten Menschen aufkommen.

Das Populärwissenschaftliche schafft ihm keinen Zugang zur Wissenschaft, sie bleibt ihm doch ein bedrohliches Geheimnis. Die Technik, die er bewundert, hat ihn immer wieder enttäuscht (wenn sie aus wirtschaftlichen Interessen alle Skrupel fallen läßt).

Die Politik reduziert sich durchgängig auf ein gegenseitiges Abschlachten, dessen Beobachten selbst eine Qual ist. Es ist kaum ausfindig zu machen, welcher Politiker welches Ziel hat. Und die Massenmedien sind der völlige Vollstrecker der Desinformation: Kriege mit fragwürdigen Hintergründen, wirkliche und inszenierte Terroranschläge, derartig komplexe verdeckte Operationen, daß man den Eindruck gewinnt, daß selbst die Geheimdienste nicht mehr den Durchblick haben, was nun Teil ihrer Aktion ist und was nicht. Verschwörungstheorien und verschwörerische Theorien über Verschwörungstheoretiker. Und zu alledem Kommentare, die mit Sicherheit unwahr sind. Der Mensch muß sich immer mehr daran gewöhnen, mit vom Menschen geschaffenen Dingen und Verhältnissen, die er nicht versteht, konfrontiert zu sein. Diese Gewöhnung ist Agonie — egal ob sie sich in Verzweiflung oder Lächeln äußert.

Und hierin hat auch die künstlich verrätselte Kunst ihre Schuld und der Kulturbetrieb seine machterhaltende Funktion, denn das Maß der Verunsicherung ist wiederum maßgeblich für die Suggestierbarkeit und damit die Beherrschung des Menschen.

 

1.10.3. Überschwemmung statt Zensur

Eine Zensur würde die Illusion von der Freiheit als Lüge entlarven. Dieser Satz impliziert die Behauptung, wir hätten keine Freiheit oder sie nicht in dem Maße, wie es dem Menschen in seinem derzeitigen Entwicklungsstand angemessen wäre, und er stellt sich gegen die Behauptung, die Gesellschaft zerfalle aufgrund eines Übermaßes an Freiheit. Das Wort Freiheit ist vermutlich eines der umstrittensten, und nimmt man all die Taten, die angeblich im Dienste der Freiheit geschahen, hinzu, auch eines der am meisten  mißbrauchten Wörter.

Freiheit hat einen voraussetzenden Aspekt, die Unabhängigkeit, und einen erfüllenden, die Fähigkeit.

Es könnte die Staatsgewalt argumentieren, daß ihre grundgesetzliche Aufgabe nur darin bestehen kann, die Voraussetzungen zu liefern, und inwieweit der Mensch sich die Fähigkeit zur Freiheitsausübung aneignet, ist seine Privatangelegenheit. Daß es zur Erlangung dieser Fähigkeit gewisser Kenntnisse bedarf, ebenso wie der Abwesenheit von falschen Vorurteilen und irrationalen Motiven, ist klar, und es ist anzunehmen, daß es eher die Ausnahmen sind, die darüber verfügen. Aber auch der Blick auf die Voraussetzungen zeigt, daß Redefreiheit und Wahlfreiheit eine Unabhängigkeit nur formal garantieren, denn die Kultivierung der Suggestierbarkeit durch allumfassende Verunsicherung erzeugt letztendlich eine Abhängigkeit von offener und noch wesentlich intensiver — da weniger bemerkt — von anonymer Autorität. Trotzdem die Verhältnisse im Allgemeinen so sind, daß sie den Menschen immer wieder in Abhängigkeiten manövrieren und seine Fähigkeiten beschränken, gelingt es einigen dennoch, selbstbestimmte Schritte zu gehen, gesellschaftliche Prozesse gänzlich neu zu kreieren, zu forcieren, zu bremsen oder sogar zu verhindern, also individuell wirksam zu werden. Vereint sich das objektiv Notwendige mit dem subjektiv Gewollten und findet seine Lösung im tatsächlich Richtigen, ist das aus meiner Sicht Freiheit und Verantwortung zugleich. Ist das Richtige evident und potentiell überzeugend, hat es die Eigenschaft, alle anderen, die nicht an diesen Punkt gelangen wollen oder können, bewußt oder unbewußt zu ängstigen. Die Masse derer, die sich davon angegriffen fühlen, ist trotz aller sonstigen Dumpfheit dafür höchst sensibilisiert. Obwohl jeder einzelne ansonsten gern seine Individualität betont, treten sie den ersten Knospen der Freiheit geschlossen entgegen. Dafür bedarf es keiner lenkenden Hand. Im Innersten weiß nämlich jeder, worin richtiges Handeln bestünde, nur er kann und will nicht über seinen Schatten springen, er will sich von seinen Abhängigkeiten nicht trennen, nicht das Risiko der Freiheit und die Last der Verantwortung auf sich nehmen, nicht an das erinnert werden, was er mühselig verdrängt. Die gewonnene Freiheit einzelner zu verbieten, zu zensieren, hieße ja schon eine gewisse Mindeststärke aufzubringen, nämlich dem eigenen Verdrängten ins Auge zu blicken. Diese Härte hat man heute nicht mehr, dafür aber weichere Methoden der zeitgenössischen Materialschlacht: das Störende wird einfach überschwemmt. Das gelingt ganz ohne Verschwörung, ohne planendes Oberhaupt, einfach weil sich empirisch das herauskristallisiert, was für die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen am meisten passabel ist. Also, in Bezug auf die Kunst, was den Kriterien unserer konkreten Kultur adäquat ist:

 

1.10.3.1. Infragestellung von Qualitätsmaßstäben

Eine Weiterentwicklung kann einen notwendigen Bruch mit dem Alten bedeuten, ohne daß es dabei zur Veränderung der Maßstäbe kommen muß; manchmal muß es aber dazu kommen, wenn die alten Maßstäbe sich als zu eng zeigen oder die Entwicklung einen Weg geht, wo früher nie ein Maß genommen wurde. Daß aber, wie es heute in weiten Teilen der Kultur der Fall ist, gänzlich auf Qualitäts-Maßstäbe verzichtet wird, hat seine Ursache nicht in solcher Weiterentwicklung. Jedenfalls führt diese Erweiterung des Kunstbegriffes zur Anspruchslosigkeit. Wenn Kunst alles sein kann, was sich als solche etikettiert, dann gibt es logischerweise ziemlich viel davon.

 

1.10.3.2. Flexibilisierung unserer Wegwerfgesellschaft

Weil wir eine jugendlich-frische Gesellschaft sind, wird dem Vorläufigen und Sporadischen mehr Authentizität zugebilligt als dem lang Durchdachten, unter ernster Selbstkritik zur Vollkommenheit Gebrachten, als wäre jedes Verbessern mit Künstlichkeit und Lüge verbunden. Der geringe Herstellungsaufwand macht im Falle eines späteren Modewandels oder anderer wertmindernder Tatsachen die Entsorgung dieser oberflächlichen Produkte weniger schmerzlich.

 

1.10.3.3. genügend Produzenten

Indem zunehmend Menschen ihr Selbstwertgefühl in der Befreiung von körperlicher Anstrengung beim Arbeitsprozeß widerspiegelt sehen und deswegen eine »geistige« Arbeit suchen (um dann ihr Bewegungsdefizit durch Sport auszugleichen) und andererseits unsere Produktionsverhältnisse die Ausbeutung anderer Nationen favorisieren, was immer mehr eigene Arbeitskräfte freisetzt, die dann in den Kunst und Ideen produzierenden Sektor eindringen, ist dieser an Produzenten reich gesegnet.

 

1.10.3.4. Kunst als Therapie

Da es systemerhaltend ist, die Ursachen psychischer Störungen, seelischer und nervlicher Schmerzen zu verdrängen, und lieber die Symptome wegzutherapieren, und Kunst nicht nur für Patienten, sondern für breite Bevölkerungsschichten anfängt, eine Rolle innerhalb therapeutischer Maßnahmen zu spielen, erfolgt auch von dieser Seite eine Bereicherung des Marktes.

 

1.10.3.5. Förderung durch Industrie

Bereits mittelständige Unternehmen zeigen auf ihrer Homepage unter der Rubrik Engagement, wie sie sich neben Fußball auch für Kunstförderung einsetzen. Diese industrielle Eigeninitiative, die sich in Sponsoring, Stipendien oder Ankauf äußert, hat natürlich nicht die Weiterentwicklung kunstimmanenter Erkenntnisse und Realisierungen zum Anliegen, auch wenn sie ständig das Wort »innovativ« im Munde führt, sondern vielmehr soll das Firmenideal durch die Kunst reflektiert und gerechtfertigt werden. Auffällig ist nämlich, daß auch gleich mit angewiesen wird, worin das Innovative besteht: Verwendung neuer Materialien, Medien, Technologien oder Kommunikationsmittel je nach Palette des Unternehmens. Zweifellos wird die Kunst damit technisch bereichert und als Gegenwert wird ihr ein Imagetransfer abverlangt: erst wird der Kunst der Nimbus des Intellektuellen aufgebaut, damit sie dann auf Automessen, als Garnierung eingesetzt, die Fahrzeuge vergeistigen und ebenso als Kunstwerke erstrahlen lassen soll.

Zimmereinrichtungsbeispiele in Warenhäusern zeigen Kunstwerke, deren ästhetischer Reiz so mancher Gardinenstange unterlegen ist und den Schluß nahelegen, sie wären eigens dafür hergestellt, die angebotenen Möbel aufzuwerten. Doch all dies wird vom größten Teil unserer Bevölkerung zur Kunst hinzugerechnet.

 

Die Besinnungslosigkeit und Unersättlichkeit unseres auf Verschleiß ausgerichteten Konsumverhaltens hat sich nicht nur an diese Flut von Kunstwerken gewöhnt, sondern scheint sie zu gebrauchen. In keiner anderen Branche wäre solche Überproduktion geduldet, die nur in der Kunst möglich ist, weil durch das immer weitere Herabsenken des geistigen, zeitlichen und materiellen Aufwandes die Kosten sich weitgehend auf das Marketing beschränken lassen.

Überhaupt widerspiegelt diese spezifische Form der Zensur durch Überschwemmung das unökonomische Wesen unserer ungeplanten Wirtschaft: ein Verbot wäre mit weniger Verschwendung verbunden.

 

Ich habe in den letzten Punkten versucht zu zeigen, daß durch die Legierung selbst völlig unterschiedlicher Interessen die Kunst in die Rolle manövriert wurde, die sie zur Aufrechterhaltung des Polit-, Finanz-, Wirtschafts- und Militärestablishments zu spielen hat. Dies gelingt ihr einerseits durch Verstörung und andererseits durch Eindämmung von Freiheiten bei gleichzeitigem Vortäuschen fast grenzenloser Freiheiten. Diese Mission, zu der sie instrumentalisiert wird, gelingt, ohne daß ihr dabei vorgegebene Aussagen abverlangt werden. Hierin unterscheidet sie sich grundsätzlich von Propagandakunst. Aber sie unterscheidet sich auch im Erfolg ihrer Wirkung, wie die letzten Jahrzehnte deutscher Geschichte zeigen, nämlich daß eine gezielte Suggestion wesentlich wirksamer manipuliert als gezielte Propaganda. Das ist auch verständlich, denn ein Diktat, mit dem man sich kritisch auseinandersetzen kann, gibt mehr Freiheit als ein Wirrwarr, welches fähig ist, auch noch jegliche Kritik albernd in sich einzuverleiben. In der Kunst manifestiert sich das Wirrwarr geschickterweise als Interpretationsfreiheit, als Denkanstöße vermittelnde Beliebigkeit, die auf das Wohlwollen der Rezipienten trifft, da sie dem Ganzen die Schwere nimmt. Denn der Mensch, der in seiner Schwäche immer Illusionen den realen Möglichkeiten gegenüber bevorzugt, konsumiert lieber diese Pseudo-Freiheit, als daß er die Last echter Freiheit trüge.

Der erzieherische Einfluß des heutigen Kunstbetriebes begünstigt auch auf kunstferneren Sektoren die Aneignung widerspruchslosen Konsumierens. Ein Konsumieren, welches sich nicht nur auf die Produkte der Industrie beschränkt, sondern sich auch auf massenmedial vermittelte Informationen ausdehnt, die damit gebilligt werden, was jener im Interesse von Macht und Profit manipulierenden Seite die beabsichtigte Handlungshoheit einräumt.


2. Weigerung und Verantwortung

Auch wenn der Blick ins Innere der gesellschaftlichen Mechanismen der Wahrnehmung, der gegenseitigen Beeinflussung, der Konditionierung des Konsumverhaltens bis hin zur Verteilung der Werte bereits eine Ablehnung der heutigen westlichen kulturellen Verfaßtheit ausreichend provoziert, soll es nicht unterbleiben, nach den Hauptgründen zu fragen, die es erzwingen, sich gegen die herrschenden Spielregeln zu positionieren.

 

2.1. Ungerechtigkeit

Ungerechtigkeit ist beim kritischen Arbeiter stets Argument der ersten Wahl. Aber das Recht folgt der Gewohnheit und diese ist eine Folge der Macht und damit wiederum der ökonomischen Verhältnisse. Es kann sich, ohne die Verteilung der Produktionsmittel anzutasten, kein wesentlich anderes Recht etablieren. Wer von Ungerechtigkeit spricht, sollte sich klar werden, ob das herrschende Recht einem anderen, besseren Recht weichen soll, welche Eigentumsverhältnisse dann dessen Grundlage sein sollen, ob diese umstürzlerischen Gedanken ihn nicht eigentlich erschrecken, oder ob er in seinem Gerechtigkeitsgefühl verstimmt ist, weil die entsprechende Suggestion versagt hat.

 

2.2. Verschwendung

Würde das Wort Verschwendung nicht so harmlos klingen, könnte man damit fast das gesamte Übel unserer derzeitigen Spielregeln und Verhältnisse beschreiben. Es beginnt mit der bereits geschilderten Überschwemmung anstelle einer Zensur, bei der jedoch nicht nur eine Flut von Kunstwerken produziert wird, sondern alle Arten von Informationen, die die Wahrheit zu einer nicht auffindbaren Perle machen und den Taucher in angeblichen Freiheiten ertränken.

 

2.2.1. Effizienz durch Schaffung von Bedürfnissen

Einige spezielle Produkte wären naturgemäß nur für eine kleine  Anzahl von Fachleuten notwendig. Zum Erreichen einer gewissen Fertigungsrentabilität muß dasselbe Produkt noch mit einer Spaßfunktion versehen werden, damit es einem allgemeinen Konsum zugänglich gemacht wird.  Der Konkurrenzkampf zwingt die Produzenten zur ständigen Erhöhung der Effektivität, was sich nur durch Steigerung der produzierten Stückzahlen und maximale Auslastung sämtlicher Produktionsmittel realisieren läßt. Um den Neukauf zu stimulieren, werden viele technische Artikel in ihrer Haltbarkeit gezielt limitiert.

Wenn es dabei dazu kommt, daß auf 5 notwendige 95 überflüssige Erzeugnisse produziert werden, läßt sich das nur finanzieren und vertuschen, indem der gesamten Weltbevölkerung entsprechende Bedürfnisse oktruiert werden, was allerdings voraussetzt, und das ist das Schreckliche daran, daß die Befriedigung unbedingter Bedürfnisse (Entwicklung zur individuellen Persönlichkeit und Überwindung der Individuation durch Liebe und Verantwortung) verhindert wird. Der Begriff Überflußgesellschaft stimmt, insofern er ausdrückt, daß das Überfließende überflüssig ist.

 

2.2.2. Die Natur als Vorbild

Verschwendung resultiert auch daraus, daß das menschliche Wirtschaften (als wesentlichster Bestandteil der Kultur) einen regressiven Weg eingeschlagen hat, indem es Entwicklungsprinzipien aus der Natur entlehnte. Dieser Gedanke muß näher erklärt werden und voraussetzenderweise auch meine Sicht auf die Begriffe Kultur und Natur. Voranstellend will ich definieren, daß sich beide voneinander ausschließen und gemeinsam die Totalität alles Existierenden und Denkbaren umfassen.

 

2.2.2.1. Natur

Das Entwicklungsprinzip der Natur liegt im unreflektierten Zufall. Unzählige Versuche werden gestartet, von denen nur ein geringer Teil in den Rahmen des möglichen Überlebens fällt. Und auch von jenen wird der größte Teil wiederum durch Konkurrenz verdrängt. Das gilt langfristig für die Evolution, die das Leben durch eine Reihe von temporären Gleichgewichtszuständen führt und mittelfristig für die Sukzession, die nach einer Störung (Naturkatastrophe, menschliches Eingreifen) diese Gleichgewichte standortentsprechend wieder einstellt. Und es gilt unvermindert auch kurzfristig, wenn es um die Erhaltung dieser Gleichgewichte, also um die Nachkommen geht: eine Pappel produziert 25 bis 50 Millionen Samen pro Jahr, diese Menge schafft ein Champignon pro Stunde und ein Riesenbofist erzeugt 7 Billionen Sporen in einem Jahr. Diese Zahlen geben einen guten Eindruck von der, mit der Blindheit verbundenen, Anstrengung, die die Natur vornehmen muß, um sich selbst zu reproduzieren. Der Gedanke dabei an Verschwendung kommt erst aus der Sicht menschlicher Kategorien, denn die Natur kennt keine Planung. Es ist eben kein Ausdruck von Planung, wenn den Samen Flügel wachsen oder Tiere Wintervorräte anlegen, sondern Resultat einer zufälligen Fügung innerhalb der Evolution. Bestand gewinnen diese Fügungen insofern sie die Überlebenschancen der Art erhöhen. Wenn dabei die Wehrhaftigkeit wächst (anderen Arten weniger als Nahrungsquelle zu dienen) oder sich Fähigkeiten ausdifferenzieren (Mobilität, Anpassung, Nachkommenfürsorge), kann das, was wir als eine Höherentwicklung ansehen, darin bestehen, immer weniger Nachkommen zur Konstanthaltung der Population haben zu müssen. Doch erst beim Menschen kommt der Quantensprung. Durch besondere Lern- und Denkfähigkeit hat er ein Leistungsvermögen erworben, über das kein Tier verfügt: das Planen. Mit dem Prinzip Analyse und Synthese ist der Blick in Vergangenheit und Zukunft verbunden, d.h. das eigene Tun zu reflektieren und eventuelle Möglichkeiten zu prognostizieren und Entscheidungen zu treffen. Bis zu diesem Zeitpunkt muß sich ein enormes Vorstellungsvermögen entwickelt haben. Für mich liegt deswegen der Unterschied zwischen Mensch und Tier auch nicht in der Benutzung von Feuer, Werkzeugen oder Sprache, sondern der prägnanteste Ausdruck des menschlichen Wesens besteht im Planen; und genau das ist Kultur.

 

2.2.2.2. Kultur

Kultivieren heißt, von der Nahrung einen ausgewählten Teil als Saatgut übrig zu lassen, von einer Fläche die Steine wegzuräumen, damit sie als Acker dient, Bewässerungsgräben anzulegen, Fallen zu bauen, Behausungen und Geschirr. Der Begriff Kulturlandschaft beschreibt diese ehemaligen Naturlandschaften, die der Mensch zu seiner Nutzung vorausschauend verändert hat. Voraussetzung der Planung ist eine Vorstellung vom gewünschten Erfolg und ihr Ziel ist, ihn mit möglichst wenigen Versuchen zu erlangen. Seitdem dem Menschen der Schutz vor natürlichen Feinden und die Sicherung des Existenzminimums ausreichend gelang, besteht der zentrale Ausdruck der Kultur in der wirtschaftlichen Verwaltung der Güter. Die zwischenmenschlichen Prinzipien der Kultur sind Kooperation und Kritik und nicht Konkurrenzkampf, welcher der Kultur völlig wesensfremd ist. Im Paradigma der Kultur gibt es keinen Grund, eine ganze Reihe von Startern für dasselbe Ziel ins Rennen zu schicken, von denen alle bis auf einen sich umsonst abmühen. Denn es ist absurd, wenn die Menschheit sich einerseits nicht das geistige Niveau zubilligt, im Vorfeld richtige Entscheidungen zu treffen, andererseits aber ein Vielfaches des geistigen Aufwandes aufbringt, um im Konkurrenzkampf die gegnerischen Versuche auszuschalten (nichts anderes sind Werbung und Marketing). Aus dem Blickwinkel der menschlichen Kultur (und keinen anderen kann man nach längerer Überlegung annehmen) erscheint der Kapitalismus insofern als regressive Perversion, da er die unreflektierten Zufallsprinzipien aus der Natur für den dynamischen Teil seines Wirtschaftens entlehnt. Zur primären treibenden Kraft hat sich das Kapital herauskristallisiert und seine religiöse Verehrung eingefordert: es gibt keinen Lebensbereich mehr, egal wie privat, der nicht in Kapital umgewandelt und maximal ausgebeutet wird. Selbst stimmungsaufhellende Psycho-Ratgeber stellen klar: Fröhlichkeit ist Kapital. Spielregeln und steuerliche Gesetze zwingen den Menschen, das, was er hat, auszubeuten. Brachliegendes wird durch seine Unrentabilität bestraft. Der mit dem Diktat zur Effizienz zwangsläufig verbundene Konkurrenzkampf wird als »Motor der Entwicklung« rationalisiert. Nicht immer gelingt diese positive Sichtweise, denn die Opfer, die der Konkurrenzkampf hinterläßt, lassen sich nicht überall verbergen. Dann treten die Moralisten auf den Plan: der Wolfskapitalismus ist böse, man muß ihn kultivieren (siehe da!), aber er ist leider unumgänglich. Denn er wird (statt ihn zu kultivieren — das hieße abschaffen) biologistisch gerechtfertigt: die Nutznießer des Status quo und seiner repressiven Moral und alle anderen passionierten Pessimisten postulieren ein Menschenbild, das wie eine Kopie der kapitalistischen Gesellschaft ist. Man muß nur richtig hinschauen und schon findet sich ein Gen, das für Aggression, Depression, Konkurrenztrieb oder Besitzgier verantwortlich ist. Und wenn  nicht, tut′s ein Verweis auf die Tierwelt. »Tiere kämpfen miteinander aus ein oder zwei guten Gründen: entweder wollen sie sich einen Rang in einer hierarchisch geschichteten Gesellschaftsordnung erkämpfen, oder sie wollen sich einen territorialen Anspruch auf ein Stück Land erobern. Manche Arten haben eine strenge soziale Rangordnung, jedoch keine festen Reviere. Andere besitzen feste Reviere, kennen aber keine Hierarchie. Und es gibt schließlich auch Arten mit Rangordnung und Revierbesitz — sie haben es also mit beiden Gründen der Aggression zu tun. Zu dieser Gruppe gehören wir, und dementsprechend gibt es bei uns Aggression auf beiderlei Art.« Das ist die Analyse von Desmond Morris, der übrigens — komischer Zufall — derjenige Verhaltensforscher ist, der sich mit dem bereits erwähnten malenden Affen Congo einen guten Nebenverdienst gesichert hat. Auf der Basis solcher Theorie der menschlichen Natur kann nun festgestellt werden, daß allein die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der heutigen westlichen Welt dem angeborenen Wesen des Menschen adäquat sind — wir sozusagen am Ende der Geschichte angekommen sind — und alle Überlegungen bezüglich einer besseren Welt, so grausam wie die heutige auch ist, nur fromme Wünsche sind, auserkoren von unrealistischen Träumern, die nicht wahrhaben wollen, daß sich der Mensch nicht auf Dauer unter einer ihm wesensfremden Diktatur halten läßt. Schließlich sind ja auch alle derartigen Versuche kläglich gescheitert.

Die biologistische Ideologie möchte vor allem den Fakt wegbeten, daß es innerhalb der Ökonomie geplant zugehen könnte. Deswegen kann sie nicht zu dem Schluß kommen: wir sind eine Kultur, sondern es gelingt ihr nur die Abspaltung: wir haben eine Kultur. Das Leichte und Schöne — Kunst, Unterhaltung und Sport — ist also Kultur und was ist der Rest — Ökonomie, Politik und deren offene und verdeckte Feldzüge — vielleicht tierischer Ernst? Und diesem Gebrauch entsprechend meint der Radioansager, wenn er von Kulturlandschaft spricht, die Anzahl von Kinos und Theatern.

 

2.2.2.3. Aufeinandertreffen von Natur und Kultur

Abschließend zur Begriffsbestimmung von Natur und Kultur muß noch genannt werden, worin sich beide berühren. Der scheinbare Dualismus, daß Elemente beiden Mengen zugleich zugeordnet werden können, ist nicht in einer Unschärfe der Grenzen begründet, sondern in der Heterogenität dieser Elemente. Der Mensch, so wie die Evolution ihn hervorgebracht hat, ist Teil der Natur, aber die Pläne, die in seinem Gehirn reifen, sind bereits Kultur. Wer die Grenze zwischen Natur und Kultur spitzfindig ausreizen will, könnte argumentieren, daß auch der Affe Pläne verwirklicht, wenn er auf einen Hocker klettert, um an die Frucht zu gelangen. Ist das schon Kultur? Planung hieße, den Hocker vorausschauend für den nächsten Fall mit sich zu führen. Planung beinhaltet die Fähigkeit vom Gegenwärtigen zu abstrahieren und den Blick in die Zukunft zu richten, und hierbei hat der Mensch eine Eigenheit, die im Tierreich völlig undenkbar ist: er kann seine Pläne (und oftmals kann er es leider nicht lassen) nachfolgenden Generationen auftragen und so Kultur akkumulieren. Allerdings kann nicht gesagt werden, daß alle Gehirntätigkeit des Menschen Planung ist. Fehlendes Vorstellungsvermögen und Ungeduld lassen es oft nicht zu, daß er die Verhältnisse analysiert, versteht, darauf aufbauend eine These aufstellt, um dann den wohlüberlegten Schritt zu gehen, der eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit hat.

Es ist deswegen nicht ganz falsch, wenn er sich, auf seine Intuition verlassend, herumprobiert, da das manchmal der schnellere Weg ist. Paradox ist dabei das Diktat der Effizienz: lag sie früher in der Abkehr von Empirie z.B. darin, daß ein Chemiker lange auf dem Gebiet der Struktur-Wirkungs-Beziehung forschen musste, um nur eine Substanz zu synthetisieren, die die beabsichtigte Wirkung aufweist, kommt es heute zu einer Renaissance der Empirie, da es mit Hilfe computergesteuerter Methoden effektiver ist, zehntausend von überall zusammengetragene Substanzen testen zu lassen und die wirksamste auszuwählen.

Neben der Frage nach den Grenzen zwischen Natur und Kultur gibt es noch eine viel wichtigere, die nach der gegenseitigen Beeinflussung.

»nature to be commanded must be obeyed« schrieb vor knapp 400 Jahren Francis Bacon. Es ist klar, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Doch genau genommen, kann der Mensch die Natur nie beherrschen — er kann sie nutzen oder partiell zerstören. Wenn er sie nutzen will, muß er ihr gehorchen. Wenn er sie schützen will, dann meint er damit lediglich, daß er sie vor den schädlichsten Auswirkungen seiner eigenen Kultur schont. Das kann er nur sich selbst und nicht der Natur zuliebe tun. Ihr ist jeder Störfall als Bereicherung recht. Die kreativen Fähigkeiten des Menschen führen zwangsläufig beständig dazu, daß er aus seinem Lebensbereich natürliche Prozesse verdrängt und durch geplante ersetzt. Doch er sollte nicht den Fehler begehen, kulturelle Lösungen dort zu suchen, wo die Natur schon Lösungen bereit hält, denn die Aufrechterhaltung eines kulturellen Zustandes ist immer viel aufwendiger, als die eines natürlichen. Der Mensch ist nicht nur damit beschäftigt, die Landschaft zu gestalten, sondern auch die Gesellschaft. Er kann das aktiv und planend vornehmen oder diesen Gestaltungsprozeß irgendwelchen treibenden Kräften überlassen, die einst in Gang gesetzt wurden, ohne daß sie etwas von den menschlichen Bedürfnissen wußten, so daß bei entstehendem Leidensdruck korrigierend eingegriffen werden muß. Egal welchen Weg oder welche Kombination von Wegen der Mensch einschlägt, er ist immer damit konfrontiert, daß die Gesetze der Natur seine Wege kreuzen werden. Sowohl in der unbelebten als auch in der belebten Natur ist das Aufeinandertreffen der verschiedenen ablaufenden Prozesse phänomenologisch gesehen zufällig, jedoch jeglicher Prozeß selbst ist einer strengen Gesetzmäßigkeit unterworfen, die nicht nur den Prozeß, sondern die gesamte Materie strukturiert. Der Mensch kann diese Gesetzmäßigkeiten in Gesetzen oder Modellen verdichtet im Bewußtsein reflektieren, verzerrt reflektieren, sehr bedingt reflektieren oder ignorieren. Abhängig davon werden die Resultate der geplanten oder ungeplanten Gestaltung stabil, metastabil und störanfällig, stabil nur unter sehr hohem Aufwand oder instabil und unbrauchbar sein.

 

2.2.3. Die thermodynamischen Übergänge eines Systems

Bevor ich diese, bereits eine thermodynamische Sichtweise berührenden Gedanken, die mich in einen weiteren Komplex der Verschwendung führen, fortsetzen will, möchte ich quasi als Übergang dahin zwei andere Phänomene erwähnen: den Idealismus und die Dialektik von Erscheinung und Wesen.

 

2.2.3.1. Idealismus

Es ist Idealismus (im engeren Sinn), wenn aus der Kritik einer unerträglichen Lage heraus Wünsche entwickelt werden, die diese Lage erträglicher machen sollen. Da sich bekanntlich diese Wünsche selten von heute auf morgen verwirklichen, bleibt den Wünschenden genügend Zeit, sie zu einem großen Ideal aufzubauen. Insofern das Hauptmotiv solchen Ideals vor allem darin besteht, vom schlechten Zustand wegzuführen, ist es wenig wahrscheinlich, daß es automatisch zu einem stabilen, natürlichen Zustand hinführt. Mag der idealisierte Zustand vorerst als der angenehmere erscheinen, kann sich herausstellen, daß zu seiner Aufrechterhaltung Maßnahmen notwendig sind, die wiederum Zwänge verursachen, oder daß er innerer Widersprüche wegen instabil ist, ja nicht einmal klar definiert werden kann. Und es ist nur logisch, daß vom kritisierten Punkt aus sehr verschiedene divergierende Ideale wegführen können, die alle meinen, das Problem zu lösen. Das macht z.B. die Naturschutzszene so zersplittert: die einen glauben, daß man die moderne Technik weiterentwickeln muß, um auch der Natur ein schönes Zuhause zu bieten, andere möchten alle Lebewesen schützen — wirklich alle, auch Krankheiten übertragende Insekten — auch pathogene Bakterien — wie verträgt sich das mit Desinfektion? Und dann gibt es auch den Extremfall: ein Amtsleiter Naturschutz vom Landratsamt und Vorsitzender des NaBu Freiberg unterbrach mich in einer Diskussion mit folgendem Statement: «Konsequenter Naturschutz ist nur durch die Ausrottung der Menschheit möglich.« Hierin zeigt sich erstens, daß die Kritik nicht vom Ziel her entwickelt wurde und zweitens, daß man sich das Ziel nicht einmal eingestehen könnte. Denn hinter dem zweiten Aspekt steckt das negative Menschenbild und das damit verbundene Schuldgefühl. Wäre das nicht so, könnten Naturschützer und andere Idealisten unbekümmert formulieren, daß es legitim und anstrebenswert ist, wenn die Menschheit sich mit geringstem Aufwand das größte Wohl verschafft. Egoismus dies zu nennen, wäre hier der deplazierteste Gedanke. Und dennoch kommt er den meisten verbunden mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen. Die einen haben sich mit ihrem Egoismus abgefunden und nehmen ohne Skrupel in Anspruch, was sich ihnen anbietet (manchmal auch das, was sich ihnen nicht anbietet) und die anderen blicken voller Scham auf den Egoismus (den eignen und vor allem den der anderen) und wollen ihm ein hehres Ideal entgegensetzen. Trotz aller Unterschiedlichkeit machen beide den gemeinsamen Fehler, dem Menschen angeborene egoistische Instinkte anzudichten, statt zu verstehen, daß der Egoismus die krampfhafte Gier, dem eignen Körper und Geist eingebildete Vorteile zu sichern, darstellt, die aus einer Reihe vorangegangener Frustrationen herrührt. Aber der Glaube an den genetisch festgeschriebenen Egoismus ist nicht nur eine Fehl-Interpretation, sondern eine gezielte. Es ist die Rechtfertigung der Entmutigten, warum sie einer gesellschaftlichen Umgestaltung ablehnend gegenüber stehen und es ist die Ideologie derer, die glauben, daß sie vom Status quo profitieren und auf die Entmutigung der anderen angewiesen sind.

Würde der Menschheit klar werden, daß der Egoismus ein Kulturprodukt ist, könnte sie auch zu dem Gedanken vordringen, daß es einen Genuß für alle geben kann, der nicht auf Kosten eines Leidtragenden geht; könnte sie dort ihr Ziel suchen. Als erste Näherung dafür hatte ich ein paar Sätze zuvor das Wohlbefinden pro Aufwand genannt. Das klingt wie die Maximierung eines Wirkungsgrades und damit im Vergleich zu vielen sozialen und religiösen Utopien ziemlich technisch, und nicht nur bei manchem Esoteriker wird das zu Bauchschmerzen führen. Doch dieses vorerst abstrakte Ziel erhält seine Bereicherung mit zunehmender Präzisierung der Begriffe dergestalt, daß beim Bilanzieren eine Totalität angestrebt werden muß. Im Aufwand vereint sich nicht nur der ökonomische, sondern der ökologische und psychoenergetische und das nicht nur auf die Gegenwart beschränkt. Und was des Menschen Wohl ist, kann nicht geklärt werden, ohne die Natur des Menschen zu kennen, seine angeborenen Möglichkeiten und Bedürfnisse und die daraus zwangsläufig resultierenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Eine Theorie des Menschenbildes wird benötigt, die unter Beweis stellen kann, daß sie frei von rationalisierender Argumentation ist. Ein Ziel, welches in — nennen wir es mal so — dieser Wirkungsgradmaximierung besteht, wäre unabhängig vom Zustand des Kritisierenden und seiner kurzsichtigen Wunschvorstellungen. Zum Beispiel erscheint uns heute das als »bester Staatszustand« von Thomas Morus angepriesene Utopia gar nicht mehr so verlockend und selbst damals vor 500 Jahren hat es Völker gegeben, die menschlicher lebten.

Um es zusammenzufassen: Ausgangspunkt für angestrebte Veränderungen muß das klar definierte Ziel sein. Die Kritik an den Zuständen kann dem Ziel Aufmerksamkeit verschaffen, aber je mehr sie sich bei der Formulierung des Ziels einmischt, desto verwaschener wird das Ziel. Und die Empörung über die Zustände ist gänzlich reaktionär, weil sie eine Lähmung und deren Rationalisierung zugleich ist, nämlich wenn sie stellvertretend für eine wirkliche Tat vorgebracht wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß gewöhnlich noch vor der Kenntnis des Ziels am Weg dahin gezweifelt wird. Soweit meine Kritik an einem Verfahren, das aus der Unzufriedenheit kommend ein Ideal nach dem Gustus gangbarer Wege definiert.

 

2.2.3.2. Erscheinung und Wesen

Zur Dialektik von Erscheinung und Wesen möchte ich nur soviel sagen, wie für das Verständnis des nachfolgenden thermodynamischen Modells notwendig ist. Der Begriff Wesen bezieht sich auf eine Menge von Elementen und beschreibt dabei eine innere Konstruktion, die allen Elementen eigen ist, sie deswegen zu Bestandteilen der Menge macht und nicht bei Elementen vorkommen kann, die von dieser Menge ausgeschlossen sind. Das abstrakte nicht»wirkliche« Wesen des Menschen ist nicht das »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, sondern es besteht in der biologischen Verfassung des Menschen, die die Fähigkeit, diese zu transzendieren und Kultur zu schaffen, einschließt. Allerdings gehört die Kultur, die er schafft, nicht mehr zu seinem Wesen; sie ist bereits die konkrete historische Erscheinung des Wesens. Sie wird geprägt von den Spielregeln des Produzierens, aller Austauschprozesse und des Konsumierens; den daraus resultierenden Einflußverhältnissen und von dem Kampf zwischen Aufrechterhaltung und Veränderung der Spielregeln. Nicht minder wird sie von den Vorgaben der Umwelt (Nahrung, Klima, Bevölkerungsdichte) geprägt. Plausiblerweise kann die Kultur je nach Ort und Epoche völlig unterschiedliche Formen einnehmen und ihre Spielregeln können dem menschlichen Wesen mehr oder weniger adäquat gegenüber stehen. Daß das menschliche Wesen, trotz der enormen Plastizität seiner Realisierungsmöglichkeiten, die Befriedigung unbedingter privater und gesellschaftlicher Bedürfnisse des Konsumierens und der Selbstverwirklichung einfordert, dürfte jedem klar sein. Die Diskrepanz also zwischen diesen Bedürfnissen einerseits und ihrer nur teilweisen Befriedigung verbunden mit dem Aufzwingen fremder Bedürfnisse andererseits, ebenso wie die Diskrepanz zwischen Selbstverwirklichung oder Akzeptanz einer von der Gesellschaft vorgegebenen Rolle; kurz die Differenz zwischen der dem Wesen adäquaten und der konkreten (eventuell inadäquaten) Erscheinung soll Entfremdung genannt werden. Hierbei stoßen wir auf vier Probleme. Erstens, daß wir Rückschlüsse über ein Wesen nur durch seine Erscheinung ziehen können, die uns in der Praxis jedoch immer in ihrer entfremdeten Variante entgegentritt und den Blick auf das Wesen mehr oder weniger stark verzerrt. Zweitens, daß wir, solange uns das Wesen noch verborgen ist, auch dessen adäquate Erscheinung nicht kennen und somit keine Aussagen über die Entfremdung machen können. Drittens, daß die adäquate Erscheinung ein Theoretikum ist, aber kein Fixpunkt, sondern eine von objektiven Randbedingungen abhängige Funktion, an die sich einst unter Abbau der Entfremdung die historische Erscheinung asymptotisch annähern wird. Und Viertens, daß die Entfremdung, die die Folge der inadäquaten Erscheinung (Kultur) ist, auch gleichzeitig als deren Ursache ausgleichend oder aber rückkoppelnd wirkt. Aus dem letzten Punkt ist ersichtlich, daß die Kultur kein statisches Gleichgewicht ist, aber sie kann über einen bestimmten Zeitraum hinweg die Form eines dynamischen Gleichgewichtes einnehmen. Einen zeitlich und territorial abgegrenzten Gesellschafts- aber auch Materieausschnitt, der sich in solch einem dynamischen Gleichgewicht befindet, möchte ich im folgenden als System bezeichnen.

 

2.2.3.3. Systemstabilisierungsenergie

Der Zustand eines Systems ist durch die Beziehungen aller Elemente untereinander gekennzeichnet und unter Änderung dieser Beziehungen kann das System in einen anderen Zustand wechseln. Es ist davon auszugehen, daß es eine sehr große Anzahl unterschiedlicher Zustände gibt, die das System einnehmen oder nacheinander durchlaufen kann. Im stabilen Zustand, selbst wenn er nur für eine minimale Dauer ist, befindet sich ein System dann, wenn es einer Aktivierungsenergie bedarf, um in einen anderen Zustand zu wechseln, das System sich sozusagen in einer Potentialmulde befindet. Verteilt man die verschiedenen Zustandmöglichkeiten des Systems behelfsweise zweidimensional, ergibt sich eine Landschaft, gekennzeichnet von unterschiedlich tiefen Potentialmulden, umgeben von Potentialwällen, soweit ausdifferenziert, daß auch innerhalb der einzelnen Mulden wieder tiefere Mulden und Wälle auftreten können.

Diese Potentiallandschaft beschreibt in der z-Dimension die potentielle Energie aller einnehmbaren Zustände des Systems, wobei ich davon ausgehe, daß es sich nur um negative potentielle Energie handelt, die ihren höchsten Wert (Null) in einem Zustand hat, wo keine Beziehungen zwischen den Elementen vorliegen. Die potentielle Energie ist die Energie, die ein ruhendes System in einem stabilen Zustand hat, oder die Energie, die das System verbraucht, um in einem bestimmten Zustand stabil zu sein. Sie soll in diesem Modell Systemstabilisierungsenergie genannt werden. Der Begriff wird plausibel, wenn man sich vorstellt, daß ein Teil der Beziehungen, die die Elemente im System untereinander haben, eine destruktive Wirkung ausübt, während ein anderer Teil der Beziehungen (Spielregeln) diese gerade so kompensiert, so daß sich das dynamische Gleichgewicht einstellt. Hieraus wird klar, daß in der Summe aller dieser Beziehungen die Ursache für das Maß der Systemstabilisierungsenergie liegt. Somit wird die Potentiallandschaft geprägt von den hypothetischen Zuständen des Systems, in denen unterschiedliche Spielregeln herrschen. Und es ist zu beachten, daß die, das System stabilisierende potentielle Energie, im System eingeschlossene, also nicht anderweitig nutzbare Energie ist, von der erst dann ein Differenz-Betrag frei wird, wenn das System unter Zufügung von Aktivierungsenergie über den Potentialwall hinweg in eine tieferliegende Potentialmulde gebracht wird. Obwohl einzelne Elemente des Systems über die kinetische Energie verfügen, die zur Überwindung des Potentialwalls nötig ist, muß zur Überführung des gesamten Systems in einen anderen Zustand die Aktivierungsenergie gewöhnlich von außen zugeführt werden. Diese Verhältnisse lassen sich leicht an einem Beispiel erklären. Betrachten wir für ein System, welches aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht, den Übergang vom Zustand 2H2 und O2 in den Zustand 2H2O. Das Ausgangsgemisch soll eine, für die Reaktion nicht ausreichende, Temperatur haben. Doch diese ist nur der phänomenologische Ausdruck der Gesamtheit aller verschiedenen kinetischen Energien der Teilchen im System. Dabei gibt es gemäß der Maxwell-Boltzmann-Verteilung neben energiearmen Teilchen einen Großteil mit mittlerer und sehr wenige mit besonders hoher kinetischer Energie, die für einen reaktiven Zusammenstoß ausreicht. Doch diese Teilchen sind innerhalb des Systems räumlich gleichermaßen verteilt. Darum ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein sehr energiereiches Wasserstoffmolekül mit einem ebenfalls sehr energiereichen Sauerstoffmolekül tatsächlich so aufeinanderprallt, daß beide in einer chemischen Reaktion zu Wasser reagieren, äußerst gering, allerdings nicht gleich Null. Sollte eben dieser Zufall eintreffen, dann wird, weil das entstehende Wasser ein viel geringeres chemisches Potential hat, bei dieser exothermen Reaktion Energie frei, die nun quasi von außen benachbarten (wiederum auch energiereichen) Teilchen die fehlende Aktivierungsenergie liefert, so daß infolge solcher ablaufenden Kettenreaktion das gesamte System in den energieärmeren Zustand übergehen könnte. An diesem Beispiel wird ersichtlich, daß die Reaktion mit Sicherheit abläuft, wenn von Anfang an alle Teilchen von außen mit der kinetischen Energie versorgt würden, die zur Überwindung des Potentialwalls nötig ist, aber auch, daß sie als abgeschlossenes System ohne Energiezufuhr mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ablaufen kann. Diese Wahrscheinlichkeit ist ihrerseits eine Funktion von der Höhe des Potentialwalls. Die Energiedifferenz zwischen den beiden Potentialmulden spielt eine Rolle, wenn man die Rückreaktion betrachtet, nämlich, daß das Reaktionsprodukt Wasser die freigewordene kinetische Energie aufnimmt und sich zu den Ausgangsstoffen zurück bildet. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist nochmals viel geringer und von jener Energiedifferenz abhängig. Betrachtet man das System als abgeschlossenes (also ohne Energie- und Stoffaustausch von außen) und erweitert den Blickwinkel auf alle möglichen Übergänge unserer Potentiallandschaft, dann sieht man, daß durch die Höhe der einzelnen Wahrscheinlichkeiten die Realisierungsmöglichkeiten des Systems in ihrem zeitlichen Verlauf nicht beliebig sind, sondern als geschichtlicher Prozeß, der in Richtung und Geschwindigkeit determiniert ist, ablaufen. Vereinfachend kann man sagen, daß auch das komplexeste System sich mit Sicherheit nach ausreichend langer Zeit in seinen natürlichsten Zustand schwingen wird.

Es tut mir leid, daß ich Dich durch dieses trockene Nadelöhr zerren mußte, aber nun wird es interessant, wenn man das Modell auf eine menschliche Gesellschaft anwendet.

Beginnen wir damit am Ziel: Der natürlichste gesellschaftliche Zustand wird erreicht, indem sich die Kultur an die adäquateste Erscheinung des Wesens annähert. Zum alles entscheidenden Kriterium wird somit die Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Wesen, also nach der Natur des Menschen.

 

2.2.3.4.            Das Wesen des Menschen

Die beiden kurzschlüssigsten Antworten erweisen sich als Vorurteile: Aggressionstrieb und Egoismus. Denn zu der Aggression, die wir heute zu beobachten gezwungen sind, die im massenhaften Töten von Artgenossen gipfelt, hätte die Evolution zwei genetische »Fortschritte« hervorbringen müssen: erstens die Überwindung der intraspezifischen Tötungshemmung und zweitens ein entsprechendes Motiv. Solch ein Evolutionserfolg wäre nicht gerade langlebig, die erste mit den neuen Genen ausgestattete Gruppe hätte nach kurzem Prozeß sich von der Menschheitsgeschichte wieder verabschiedet.

Wer im menschlichen Egoismus einen Selbsterhaltungstrieb oder noch viel absurder — und trotzdem oft zitiert — einen Trieb zur Durchsetzung der individuellen Gene entdecken will und sich dabei auf Darwin beruft, verkennt (wahrscheinlich absichtlich) den Kern Darwins Feststellung, nämlich daß mutagene Formen sich über Generationen hinweg durchsetzen, wenn sie dem Überleben der Art dienen und nicht dem Individuum. Aggression und Egoismus sind zwar keine Bestandteile des menschlichen Wesens, wohl aber ist dessen dortige Suche Rationalisierung an vorderster Front.

Die biologische Seite des Menschen ließe sich gut fassen, könnte man sie an seinen Instinkten festmachen. Doch unsere Beobachtung lehrt uns, daß der Mensch im Gegensatz zum Tier nicht einmal die Instinkte hat, die sein Überleben sichern könnten. Ist es da sinnvoll, Instinkte zu postulieren, die dafür absolut bedeutungslos sind und deren Herausbildung vor ca. 20.000 Jahren (denn der Mensch hat sich seit der Jungsteinzeit genetisch nahezu nicht verändert) enormes hellseherisches Potential von der Evolution abverlangt hätte, wie die Liebe zu Bügelfalten, schnellen Autos oder lila Lippenstift? Die Zwillingsforschung hat ein Faible dafür, aber auch allgemein beobachte ich eine zunehmende Beliebtheit von Vererbungsmythen. Gerade im Wunsch, wiederkehrende Verhaltensmerkmale als vererbt anzusehen, stellt sich die aktive Suggestierbarkeit einer objektiven Erkenntnis in den Weg.

Doch woher kommt die im Tierreich einmalige Freiheit im Verhalten und fehlende Instinktdeterminierung beim Menschen? Nach Untersuchungen des Zoologen Adolf Portmann erlangt der Mensch erst in seinem 12. Monat nach der Geburt einen physiologischen Entwicklungsstand, der dem der anderen Säugetiere zum Zeitpunkt ihrer Geburt entspricht. Hätte sich der Mensch auf »echte Säugetierweise« weiterentwickelt, benötigte er eine Schwangerschaftsdauer von 21 Monaten. Doch die Evolution ließ ihn einen anderen Weg gehen, den einer zunehmend früher erfolgten Geburt. Wahrscheinlich sind meine Gedanken nicht frei von Spekulation, aber bis zur Widerlegung plausibel. In der zweiten Hälfte der Embryonalzeit wird das Gehirn immer stärker ausdifferenziert und es werden nach einem genetischen Plan die Instinkte wie bereits erlangtes Wissen neuronal verknüpft. Wenn beim Urmenschen diese Phase in eine extra-uterine Entwicklung fiel, mußte diese Verknüpfung mit nunmehr einsetzenden Wahrnehmungen der Sinnesorgane und dem Lernvermögen konkurrieren. Weil dies sich aufgrund wachsender Gehirnmasse und umfassender Fürsorge nicht nur als lebensfähig, sondern als überlegen erwies, vollzog sich ein Prozeß der immer länger werdenden hypothetischen Schwangerschaftsdauer bei gleichzeitiger Verkürzung der realen mit zunehmender Favorisierung der Wahrnehmung und des Lernvermögens unter Nutzung der, durch das Verblassen inzwischen verzichtbar gewordener Instinkte, freiwerdenden Gehirnkapazität. Allein die Vergrößerung des Lernvermögens und begleitend der Gehirnmasse kann als Motor dieses iterativen Prozesses nicht ausgereicht haben. Erst durch die Abfolge der Fähigkeiten: neuartige Form der Beobachtung mit Kombinationsgabe, Kreativität und daraus folgend Planung und zielgerichteter Gebrauch von Werkzeugen, Kommunikationsmöglichkeit und im Höhepunkt gemeinsames Planen und Agieren, findet sich das Potential, einerseits die Instinkte nachhaltig überflüssig werden zu lassen und andererseits, die Anfänge eines Bewußtseins zu markieren.

Auf die unbedingten Reflexe und die hormonelle Steuerung der körperlichen Entwicklung übte die einsetzende Wahrnehmung und deren Verarbeitung keine Konkurrenz aus, so daß diese wie bei den anderen Säugetieren erhalten blieben.

Stellt sich nun die Frage nach den Trieben, und wenn man sie gründlich stellt, ob es sie überhaupt als organisches Korrelat gibt. Muß man z.B. den Hunger zum Nahrungstrieb stilisieren, der seine Realisierung den Instinkten (Nahrungserkennung, Jagd, Vorratslagerung usw.) verdankt, oder setzen nicht vielmehr die Instinkte ihre Tätigkeit automatisch ein, sobald die äußeren (Jagdopfer) und inneren Signale (biochemische Reizmeldung des leeren Magens) in Erscheinung treten? Wenn für einen Trieb aber nicht die Forderung erhoben wird, ihn als biologisches Material (z.B. im Erbgut) nachzuweisen, sondern es ausreicht, ihn aus absolut unabwendbaren Notwendigkeiten zu deduzieren, dann müssen mit gleichem Recht alle Zwangsläufigkeiten, die aus der neuen Qualität des Denkens resultieren, ebenso als Triebe benannt werden. Ich denke, daß der stärkste Entwicklungsschub, der schließlich den Instinktverlust besiegelt hat, im gemeinsamen Planen liegt. Inwieweit das eine entsprechende a-priori-Erwartungshaltung in der menschlichen Psyche, die ebenfalls im Begriff war, zu entstehen, festgelegt hat, ist schwer zu sagen, aber psychoanalytische Erkenntnisse deuten darauf hin. Letztlich kann hinter jeder aggressiven, sadistischen, masochistischen usw. Tat der fehlgeleitete Trieb gesehen werden, Nähe und Zukunft aufzubauen. Was nicht mit einer Verkehrsregelung verwechselt werden darf, die einen Fahrzeugstrom einfach umleitet, so daß er dann über einen anderen Weg ans Ziel gelangt. Denn die Obsession, Grausamkeit oder Hingabe mit der manche Leidenschaften ausgeübt werden, beweisen nicht die Stärke des ursprünglichen Triebes, sondern die Gründlichkeit dessen Nichterfüllung. Für einen Trieb aber, der im weitesten Sinne aus dem Denken resultiert, im Bewußtsein entsteht und nach immaterieller Befriedigung trachtet, stellt sich die Frage, wieso es möglich ist, daß dem Individuum die Erfüllung oft versagt bleibt.

Im Laufe der ersten Lebensjahre eines Menschen entfaltet sich nach dem logischen auch das abstrakte Denken, welches irgendwann das Niveau erreicht, daß das Kind alles von sich abstrahieren kann. Es gibt dann ein Ich, und der Rest ist die Welt, von der es nunmehr getrennt ist. Der frühkindliche Narzißmus ist eine Schutzfunktion, damit diese Erkenntnis nicht zu brachial erfolgt, denn sie ist verbunden mit der einschleichenden Wahrnehmung des Kindes, daß ihm eine potente, komplexe Welt fremd gegenübersteht, die es nicht versteht, und die ihm im Vergleich zu sich selbst die eigene Impotenz und Einsamkeit zeigt. Unter gesunden Rahmenbedingungen verblaßt der Narzißmus, indem das Kind die Fähigkeiten erlernt, diese Trennung zu überwinden. Ein Kind kann bereits mit zwei Jahren die ersten Zusammenhänge in Technik und Natur verstehen und Neugier auf mehr entwickeln, und mit drei Jahren setzt die Fähigkeit ein, Verantwortung zu übernehmen. So begreift das Kind, daß es sich auf eine produktive Weise mit der Welt verbinden kann und gewinnt ein diesbezügliches Interesse. Nun hängt die weitere Entwicklung davon ab, wie lustvoll das Kind auf diesem Weg voranschreitet, oder ob es gebremst wird und sich an seinen Narzißmus klammert bis er zum Charakter wird, oder ob der Narzißmus gewaltsam zerstört wird, und das Kind Muster der Eltern übernimmt, auf regressive Weise Verbindung zur Welt herzustellen und sich der Verantwortung zu entledigen. Hier zeigt sich, daß so früh schon zwei entgegengesetzte Entwicklungsrichtungen eingeschlagen werden können, zwischen denen der Mensch seinen Weg finden muß, doch nicht in einem beliebigen Zickzack-Kurs, denn jeder Schritt wird zur Ursache dafür, den nächsten Schritt in dieselbe Richtung zu setzen.

Der progressive Weg, der aus dem Narzißmus kommend zur Selbsterkenntnis geführt hat, verläuft unter weiterer Individuation zum Selbst-Bewußtsein und gipfelt in der Erlangung eines eigenen Gewissens. Parallel dazu muß das Gegenstück stattfinden: die Überwindung der auf die eigene Person beschränkten Interessen, die soziale Anteilnahme. Beide, also Individualität und Gemeinschaftssinn, werden gern als Gegenteile bezeichnet, zwischen denen den Lesern diverser Ratgeber anempfohlen wird, einen Kompromiß auszuhandeln. (Das entspringt derselben Ideologie, die auch Egoismus mit Selbstbewußtsein gleichsetzt, Vermassung mit sozialer Anteilnahme verwechselt und nicht zu erkennen vermag, was sich hinter dem Individualismus verbirgt: nämlich die Vermassung.) Um es noch einmal zu betonen: nur durch die Ausprägung von Individualität, Souveränität und Gewissen wird die Voraussetzung geschaffen, Verantwortung zu übernehmen und ihr gerecht zu werden, um in diesem Akt die Trennung von der Welt zu überwinden. Mit der Erlangung der Gewißheit eins zu sein mit Natur und Menschheit und deren Zukunft haben Impotenz und Einsamkeit jede Grundlage verloren; ergibt sich das eigentliche Motiv für Verantwortung. Genau genommen zeigen sich diese angeblichen Gegenteile als zwei Seiten eines Prozesses der Befriedigung des elementarsten menschlichen Bedürfnisses, das wir durchaus Trieb nennen dürfen.

Dieser Prozeß verläuft nicht reibungslos. Selbst wenn am Anfang die Weichen günstig gestellt sind, und das Individuum, mit Wissen und Hingabe ausgestattet, fähig ist, Verantwortung zu übernehmen, erfährt es nicht selten, daß solches Engagement unerwünscht ist, ja soweit als störend empfunden wird, daß der Staat seinen gesetzlichen Rahmen so einrichtet, daß das Engagement sich außerhalb wiederfindet. Aber das Kriterium für die Richtigkeit können weder sittliche noch juristische Kodizes sein. Einzig die Naturgesetze und die sich daraus ableitenden Konsequenzen für eine Gesellschaft sind verbindlich. Sie sind Hardware, unabänderlich, alle Software, die darauf gespult wird: Spielregeln, zu Gesetzen zementierte Gewohnheiten, können auch umprogrammiert werden. Wer dazwischen unterscheiden kann und dafür etwas riskiert, hat eine subversive Demut erlangt.

Der regressive Weg, der versucht, die Selbsterkenntnis rückgängig zu machen, um Verantwortung und Einsamkeit und schließlich sich selbst in symbiotischen Verhältnissen zu verlieren, führt daher zu einem Defizit bei der Befriedigung des eben postulierten Triebes. Dadurch, daß die Linderung des Problems in der Delegation der Verantwortung und der Verdrängung des Problems durch Konsum und Vergnügen gesucht wird, verstärkt sich das Defizit und das Festklammern an der falschen Linderung muß zur Sucht werden.

Soviel dazu in aller Knappheit, weil es hier Anliegen war, das menschliche Wesen zu beleuchten und nicht dessen kulturelle Inadäquatheiten.

Jetzt, vielleicht, kann man sich an die Frage herantasten, wie eine Gesellschaft organisiert sein muß, die dem Wesen des Menschen entspricht und sich deswegen an einen Zustand geringster systemstabilisierender Energie annähert. (Das absolute Minimum liegt im Unendlichen nach unserem Modell.)

 

2.2.3.5.            Die adäquate Erscheinung

Ein wichtiger Faktor dafür sind gesund aufwachsende Kinder. Die Erziehung zu einer wissenschaftlichen Beobachtungsgabe darf nicht nur Bestandteil eines Unterhaltungsprogramms für das Kind sein, sondern muß zur einzigen und selbstverständlichen Quelle für eine Weltanschauung werden. Das Kind muß begreifen können:

-         daß es Zusammenhänge zwischen Phänomenen gibt

-         worin deren Logik besteht

-         wie sich die Logik verallgemeinern läßt

-         wie sich aus abstrakten Erkenntnissen Konkretes deduzieren läßt

-         welche Bedeutung dabei Stringenz hat

-         wie aus kausalen Ketten Kreisläufe werden

-         wie sich aus entgegenläufigen Prozessen Gleichgewichte aufbauen

-         wie sich aus gleichgerichteten Prozessen (Wirkung = Ursache) Rückkopplungskreise aufbauen

-         daß es nur durch Unbestechlichkeit zur Erkenntnis kommt

-         daß es fremde Behauptungen überprüfen kann

-         daß es zur Äußerung von Kritik nicht nur berechtigt ist, sondern eine Pflicht hat

-         daß es ihm nützt, die Gedanken anderer zu verstehen

-         daß die eigentliche Befriedigung darin besteht, gemeinsame Ziele zu verwirklichen.

 

Diese Liste wird keine Überraschung auslösen, umfaßt sie doch etwa die Zielstellung, die sich eine humanistische Erziehung seit Jahrhunderten gegeben hat. Das macht sie weder falsch noch alt. Verwirklicht werden konnte sie nie, denn es war ein Irrtum des Humanismus zu glauben, daß das Bewußtsein der Erzieher den Erfolg garantiert. Es muß aber das praktische Umfeld des Kindes sein, welches die Möglichkeiten bietet und (da wird der freiheitliche Demokrat zusammenzucken und fragen: wer hat das Recht dazu?) das Störende ausschließt. (Doch er sollte sich selber fragen, was am Geistigen so anders ist als am Körperlichen, und ob er nicht auch alle Hebel in Bewegung setzen würde, damit seine Kinder nicht in einer Chloratmosphäre aufwachsen, oder was er im Seuchenfall von Desinfektion hält.) Das praktische Umfeld kann selbstverständlich keine Puppenstube sein, die im Widerspruch zur restlichen Gesellschaft steht, denn die Erzieher sind Teil der restlichen Gesellschaft und werden immer in deren Sinn erziehen, egal was sie verkünden.

Das Kind muß Teilnehmer an konstruktiven Prozessen sein, um ein Gefühl für zeitliche Dimensionen und Zusammenhänge (Samen → Pflanze→ Frucht → Samen; Wasserkreislauf; Kompostierung ... ) und für planerisches Eingreifen (Bestandsaufnahme → Plan → Realisierung → Erfolgskontrolle) zu erlangen. Es braucht eine wahrheitsgemäße Erklärung für den Sinn der beruflichen und freizeitlichen Tätigkeiten seiner Eltern. Das Kind muß in einem Umfeld aufwachsen, in dem Naturgesetzmäßigkeiten auch ohne meßtechnische Apparatur erkennbar sind. Das favorisiert die ländliche Gegend oder das Dorf — natürlich gelten die Gesetze überall, aber in der funkferngesteuerten Großstadtwelt mit ihren überdachten Vergnügungsparks begreift ein Kind nicht Gesetze, sondern bestenfalls Gebrauchsanweisungen, und genau das ist der wesentliche Unterschied. Innerhalb der herrschenden Rahmenbedingungen darf es keine Instanz geben, von der eine Suggestion ausgeht, die in die Dynamik des Kindes eingreift, d.h. originäre Bedürfnisse beschneidet und fremde aufzwingt, oder die das Kind hindert, Kritik bzw. seine Auffassung von der Wahrheit zu äußern. Es reicht aber nicht, und jetzt noch einmal betont: das Kind davor zu schützen, sondern die Gesellschaft darf keine Institutionen hervorbringen, denen derartige Interessen wesenseigen sind. Die gleiche Forderung besteht darin, daß Kinder nicht in Kontakt mit hierarchischen Gefügen, Macht oder Konkurrenzkampf kommen. Nicht nur weil es das Verschmelzungsbestreben der Kinder frustriert, sondern weil unter solchen Bedingungen statt der Liebe zur Erkenntnis nur Angeberei stimuliert wird, also der erste Schritt für die Entwicklung zur enthöhlten Person. Von Spielzeug und irgendwelchen Unterhaltungsartikeln war bis jetzt noch keine Rede und ich glaube, die Befreiung davon ist unabdingbar, auch wenn es den Erziehern mehr Zeit und Geduld abverlangt, stattdessen den direkten Kontakt zwischen Welt und Kind herzustellen.

Diese Art der Erziehung ist nicht nur bedeutend, weil sie das Wohl der Kinder sichert, sondern weil sie die Grundlage dafür liefert, daß die aus ihr hervorgegangenen Erwachsenen die geistigen und charakterlichen Fähigkeiten besitzen, die für das Zusammenleben in der adäquaten Gesellschaft notwendig sind.

Auch für den Erwachsenen muß ein Milieu herrschen, das von Liebe und Kritik geprägt ist. Dazu muß das gesellschaftliche Sein so beschaffen sein, daß der Mensch anderen Menschen immer nur als eventueller Kooperationspartner, niemals aber als Konkurrent, Gegner oder Feind gegenübertreten kann. Er muß die Gewißheit haben, auf dieser Erde gewünscht zu sein, ohne daß er eine Leistung erbringen muß, die seine prinzipielle Daseinsberechtigung unter Beweis stellt. Damit der Mensch das Menschliche seines Wesens voll entfalten kann, müssen sämtliche Angelegenheiten, die die Produktion und Verteilung der Güter betreffen, einer ungehinderten Planbarkeit zugänglich sein. Trial and Error, das Prinzip der Natur ist im Paradigma des Menschlichen unwirtschaftlich und Verschwendung. Der Mensch nähert sich seiner Natur, indem sich seine Ökonomie von der Natur entfernt. Dabei müssen, im Hinblick auf den Weg dahin, zwei Probleme gelöst werden:

Erstens die Beseitigung des Konkurrenzkampfes, der einer gesunden Verschmelzung des Individuums mit der Welt im Wege steht und die Ursache für seelische Deformation und Selbstausbeutung ist; und der wiederum seine Ursache findet in der aus Planlosigkeit und dem Diktat zur Effizienz (dessen Ursache er selbst ist) resultierenden Überproduktion.

Zweitens der volle Planungszugriff auf alle wesentlichen gesellschaftlichen Instrumente, so daß alle Entscheidungen gemäß ihrer Richtigkeit und nicht gemäß angeeigneter Rechte (was auch Eigentumsrechte einschließt) gefällt werden können.

Beide Aspekte erzwingen in erster Instanz die gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittel. Voraussetzung dafür, und in der adäquaten Gesellschaft tritt diese Voraussetzung ein, ist, daß der Mensch von keinen irrationalen Motiven beherrscht wird. Mit der Beseitigung der objektiven Ursachen für irrationale Motivationen und damit deren Wegfall inklusive der daraus folgenden irrationalen Handlungen erfolgt die Aufhebung des Begriffes Arbeit und es erlischt der Sinn für ein Privateigentum: denn die irrationalen Motivationen waren die Ursache für das Entstehen von Privateigentum auf unterschiedliche Weise: um sich Grundlage zu verschaffen für irrationale Handlungen (Machtausübung) oder, um Werte vor irrational motiviertem Zugriff anderer zu schützen.

Wenn sämtliche Tätigkeit rational motiviert ist oder den menschlichen Bedürfnissen entspricht, gibt es keine Tätigkeit mehr, die nicht gesellschaftlich notwendig wäre, weil sie entweder direkt im Auftrag der Gesellschaft erfolgt, oder weil sie für den Einzelnen und damit gleichzeitig für die Gesellschaft notwendig ist, so wie der Einzelne von der Gesellschaft gebraucht wird. Dadurch wandelt sich die ökonomische Bedeutung des Begriffes Arbeit dahingehend, daß nicht mehr das als Arbeit gewertet wird, was gegen Lohn verrichtet wird, den jemand zahlen kann, weil er mit der Aneignung der Arbeitsleistung Umsatz macht, sondern die Grenzen zwischen Arbeit, Regenerierung der Arbeitskraft und Selbstverwirklichung verschwinden. Mit der Beseitigung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit entfällt auch die Unterscheidung zwischen Produktionsmittel und Erholungsmittel, was jedes Privateigentum zum Produktionsmittel macht und bei vollzogener Aneignung aller Güter durch alle Einzelnen jedes Produktionsmittel zum Privateigentum. Das Bestimmen von Wertäquivalenten reduziert sich auf den rechnerischen Akt zur Optimierung der Planung. Das Geld verliert seine Funktion und damit sind in zweiter Instanz alle Eigentumsverhältnisse aufgehoben. Die Menge und Qualität des Eigentums, das der Einzelne sich aneignet, was damit zu seinem Verantwortungsbereich wird, muß durch eine funktionsfähige Gleichgewichtseinstellung geregelt sein. Vorausgesetzt, daß die zu tragende Verantwortung innerhalb der Gesellschaft nicht größer oder kleiner ist, als die Summe dessen, was deren Mitglieder zu tragen fähig und bedürftig sind, ergibt sich die Gleichgewichtseinstellung durch die Ambivalenz der Verantwortung. Diesem Phänomen muß später noch ein Extra-Kapitel gewidmet werden, hier nur soviel: Jeder Mensch, auch der in einer adäquaten Gesellschaft lebende, steht den Herausforderungen, die das Leben an ihn heranträgt, ambivalent gegenüber. Die Übernahme von Verantwortung kann zur belastenden Verpflichtung werden oder aber zum Lustgewinn, wenn der Mensch sich auf diese Weise produktiv mit der Welt vereint.

In einer entfremdeten Gesellschaft führt die Ambivalenz der Verantwortung in dem Maße zum Konflikt, wie die Person den regressiven Weg beschreitet, wenn sie fortwährend versucht, sich der Verantwortung zu entledigen und die damit nicht erreichte Vereinigung mit der Welt auf symbiotische Weise unter Verlust ihrer Persönlichkeit herstellt. 

Die adäquate Gesellschaft liefert die Grundlage dafür, daß der Mensch den progressiven Weg einschlägt, wodurch im Gegensatz zum anderen Fall die Ambivalenz der Verantwortung zu einer Gleichgewichtseinstellung führt, die auch für die Aneignung der Güter regelnde Wirkung hat.

Eignet sich der Mensch mehr Güter an, als er verantworten kann, lädt er sich damit nur mehr Last und Verpflichtungen auf, ohne daß ihm das die entsprechende Befriedigung und Verschmelzung brächte. Die negative Gefühlsbilanz würde die Zuvielaneignung zurückregulieren. Zuweniganeignung führt zu einem Verschmelzungsdefizit. Wesentliche Voraussetzung für eine funktionsfähige Gleichgewichtseinstellung ist, daß der Mensch ein klares Selbstbewußtsein erlangt, daß er in der Lage ist, seine Fähigkeiten, Bedürfnisse und Möglichkeiten realistisch und illusionsfrei abzuschätzen.

 

Weil der ausschlaggebende Teil des menschlichen Wesens gerade mit dem Instinktverlust und der damit begründeten Handlungsfreiheit verbunden ist, läßt sich die dem Wesen adäquate Erscheinung bei weitem nicht so genau formulieren, wie es bei einem Tier möglich ist. Tiere sind durch ihre Instinkte an Klima, Lebensraum, Nahrung o.a. Beziehungen meist spezifisch gebunden, so daß sich die, dem Wesen einer bestimmten Tierart adäquate, Erscheinung präziser umfassen läßt. (Auch hier ist uns eine Entfremdung durch menschliches Zutun nicht unbekannt.)

Der Mensch ist weitestgehend frei von solchen festgelegten Umweltfaktoren und hat durch seine Kreativität ein viel höheres Vermögen, sich den gegebenen Bedingungen anzupassen. Diese Fähigkeit zur Anpassung kann sehr unterschiedliche Folgen haben und so wird das, was eigentlich des Menschen Stärke ist, auch oft zu seiner Schwäche.

Trotz des Anpassungsvermögens und der Freiheit im menschlichen Charakter ist die adäquate Gesellschaft weit davon entfernt, eine Beliebigkeit zu sein. Wie gezeigt wurde, gibt es unbedingte Erwartungen, die der Mensch, seinem Wesen gemäß, an seine Umwelt stellt, wenn auch auf gänzlich anderen Ebenen als das Tier.

 

Eigentlich müßte es die dringendste Aufgabe heutiger Wissenschaft sein, das menschliche Wesen und seine adäquate Erscheinung genauer zu fixieren. Doch scheint dafür kein Auftraggeber zu existieren. Beschämend ist der Bogen, den die Forschung darum macht, um stattdessen den kleinsten Elementarteilchen oder dem fernsten Sternennebel hinterher zu jagen. Noch weitaus beschämender sind die Markt- und Meinungsforschungsinstitute, die tagtäglich ihre Umfragen machen und nicht annähernd herausfinden, was der Mensch tatsächlich braucht. Und wer die Liste des Beschämenden fortsetzen will, muß sich nur vergegenwärtigen, wie heruntergekommen die visionäre Kraft der Künstler, insbesondere der Filmschaffenden ist: unter den tausend Filmen, die uns die Zukunft der Welt verkünden, d.h. ihr infernalisches Ende oder die Abwendung der Apokalypse in letzter Sekunde durch zwei edle Ritter, ist vermutlich kaum einer, der sich an das Thema getraut, aus den noch unvollkommenen wissenschaftlichen Theorien über eine menschenwürdige Gesellschaft, eine lebensnahe Geschichte zu entwickeln, die den Zuschauer animieren könnte, sich für dieses Ziel zu engagieren. Fragt sich, welche Angst die größte ist: die vor der Vision selbst; die davor, daß sie kitschig gerät oder die, daß sie — was, egal wie stark sie ist, mit Sicherheit eintritt — des Kitsches bezichtigt werden würde. →  Pathos oder Apathie

Nun, Visionen dieser Art sind nicht gerade das Markenzeichen unserer Epoche. Man hält es da lieber mit technischen Heilsverkündungen und für das »Menschliche« sorgen Familienserien.

Dies ist politisch so gewollt in einem System, das es geschafft hat, die herrschende Ideologie soweit beim Einzelnen zu internalisieren, daß selbst die Unterdrückten (genau genommen sind auch die Unterdrücker Unterdrückte) am Status quo festhalten. Die Frage ist, kann das die Annäherung an die adäquate Gesellschaft verhindern? Nein. Wie schon am thermodynamischen Modell demonstriert, nähert sich das System Menschheit an die Funktion der adäquaten Erscheinung des menschlichen Wesens mit völliger Gewißheit, es ist nur eine Frage der Zeit. Als ich einst einem sehr einflußreichen Politiker die ganze Theorie bis zu diesem Punkt erläutert hatte, unterbrach er mich: »Tom, deine Träume sind herrlich, aber erst einmal müssen wir unser Wirtschaftswachstum steigern, damit wir solche Träume auch verwirklichen können.«

 

2.2.3.6. Systemstabilisierungsenergie in der entfremdeten Gesellschaft

So sollte es doch lohnend sein, einen Blick dorthin zu werfen, wo die erzeugten Werte unserer ständig wachsenden Wirtschaft verbraucht werden. Abstrakt gesehen, verteilt sich dieser Verbrauch auf zwei Konten: erstens Befriedigung der Bedürfnisse und zweitens systemstabilisierende Energie. Alsdann müssen wir einen Betrachtungsrahmen wählen: nehmen wir die heutige Kultur der westlichen Industrienationen. Während mit materiellen Gütern der entsprechende Bedarf bis auf Ausnahmen befriedigt werden kann, scheint  mir unser System dem Anspruch, den der Mensch gemäß seines Wesens an sein Lebensumfeld stellen müßte, nicht gerecht zu werden. Der Fakt, daß immaterielle Bedürfnisse kaum befriedigt werden können (wie die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit unter Anpassungsdruck und das Verlangen nach Verschmelzung unter Konkurrenzkampfbedingungen), soll hier nur festgehalten werden, spielt aber keine direkte Rolle, wenn es um den Verbleib der produzierten Werte geht.

Bereits jetzt dürfte klar werden, daß es der allerkleinste Anteil aller erzeugten Güter ist, den der Mensch in irgendeiner Form für sein Leben verwerten kann. Daß eigentlich fast alles das System stabilisierende Arbeit ist, und daß deswegen noch weitere Steigerung der Produktivität das Unglücksverhältnis nur vergrößern würde, soll im folgenden gezeigt werden. Das betrachtete System weist ebenso wie seine Vorgänger dem Individuum einen Entwicklungsweg in regressive Richtung, dessen negative Folgen wie Minderwertigkeitskomplex und Einsamkeit der Betroffene z.B. durch die Ausübung von Macht zu kompensieren versucht. Diesem Bestreben ist der Wunsch nach einem Machtinstrument immanent, das immer verfügbar, also Eigentum sein muß. Einmal in Gang gesetzt, vollzieht sich ein Prozeß der Eigentumsaneignung der verwirrend komplex motiviert ist:

1.      Das irrationale Motiv, Impotenz und Einsamkeit durch Macht zu kompensieren, wird verdrängt, aber der Machtwunsch wird bewußt und unverhüllt, also rational, durch Aneignung befriedigt.

2.      Dasselbe irrationale Motiv wird verdrängt, darüber hinaus auch der Machtwunsch, den sich der Einzelne nicht eingestehen will. Die Aneignung wird rationalisiert als Schutz der Güter vor den negativen Folgen des Zugriffs anderer.

3.      Die Aneignung erfolgt tatsächlich rational, um Verantwortung zu übernehmen.

Wer nur sieht, wie zentral diese Problematik im menschlichen Dasein verankert war und ist, die innere Dynamik aber ignoriert, muß zu dem Schluß kommen, das Motiv sei angeboren. Da dieser größtenteils irrational motivierte Prozeß nicht die Lösung für die eigentlichen Defizite beinhaltet und in seiner Folge alle Mitglieder des Systems zur Teilnahme zwingt, führt er dazu, daß irgendwann die ganze Erde privat angeeignet wird. Ob diese Aneignung legal oder illegal ist, ist nur eine (eigentlich bedeutungslose) Frage der zum jeweiligen Zeitpunkt herrschenden Gesetze. Und dieser Prozeß weist einen wesentlichen Unterschied zur adäquaten Gesellschaft auf: Die Verantwortung ist nicht die Ursache, sondern nur die Folge der Aneignung. Aufgrund dessen und weil die Möglichkeiten des koordinierten gesellschaftlichen Planens kaum gegeben sind, kann die Gesellschaft der zu tragenden Verantwortung nicht gerecht werden. Um diese Verantwortungslosigkeit zu verschleiern und quasi einen »Verantwortlichen« zu finden, und weil es in diesem Zustand auch nicht mehr anders zu realisieren ist, wird der gesamten Ökonomie des Systems ein Verfahren nach dem Vorbild der Natur (siehe 2.2.2.) zugewiesen und diesem »regulierende und den Fortschritt antreibende Bedeutung« unterstellt. Das Privateigentum, so absurd dessen Existenz aus menschlicher Sicht erscheint, wird in der hochentwickelten entfremdeten Gesellschaft zur wichtigsten die Spielregeln des Systems kreierenden Instanz, die da sind: wie kann das Privateigentum vor dem Zugriff anderer geschützt, vermehrt oder einfach nur ausgetauscht werden. Da sich das Privateigentum auch auf Produktionsmittel erstreckt und durch diese eine Eigentumsvermehrung nicht nur möglich ist, sondern auch erzwungen wird, erhält die irrationale Forderung nach Vermehrung eine zusätzliche Dynamik. D.h. diese treibenden Kräfte lassen den Besitzer unter Ausnutzung seiner Kreativität nach immer neuen Wegen für eine Vermehrung seines Eigentums, nunmehr Kapitals suchen. Mancher neue Trampelpfad gefährdet die Stabilität des Systems, wenn er nicht wirkungsvoll durch die Erlassung von Gesetzen verbunden mit Strafandrohung verbaut wird. Dem Motiv der Aneignung wird also mit der Überkompensierung durch sein Gegenteil, der Enteignung, gedroht. Obwohl diese Gesetze präventiv sein sollen, wirken sie teilweise nur hinterherhinkend, weil sie statisch sind, im Gegensatz zum dynamischen Motiv. Es ist plausibel, daß die Bestrebungen nach Macht, Einflußnahme, Kapitalvermehrung, Eigentumsverteidigung u.ä., wenn das System stabil bleiben soll, eine Einteilung in legal oder kriminell erfordern und daß Hoheitsgebiete durch Grenzen getrennt werden müssen, was sich nicht nur auf die materielle Ebene bezieht, sondern auch auf die zu Kapital gewordene geistige: Wissen, Informationen, Beziehungen ...

Darüber hinaus bedarf es eines universalen Äquivalentes zur Regelung des Austausches. Zwangsläufig wird dieses Äquivalent irgendwann selbst zu Kapital. Die einmal entfesselten Triebkräfte fordern einen ständig wachsenden Apparat des Regulierens, der immer feiner, differenzierter, komplexer und damit umfangreicher wird, solange daß Diktat der grundsätzlichen Unveränderbarkeit des Systems gilt. Dabei könnte gerade jetzt in den hochentwickelten Ländern durch die extrem modernisierten Kommunikationsmittel, den wissenschaftlich-technischen Stand der Produktion und deren technische Koordinationsmöglichkeiten eine potentielle Energie frei werden, die zur Überwindung des Potentialwalls ausreicht, um das System in einen potentialärmeren Zustand zu transformieren. Aber genau diese freiwerdende Energie läßt man sofort, noch bevor sie revolutionär werden könnte, eine Arbeit verrichten, die neue potentielle Energie ins System zurückführt. Diese Systemstabilisierungsarbeit erschafft einen Umfang, der die erstbeste Vermutung bei weitem übersteigt und der in der nachfolgenden Aufzählung nur angedeutet werden kann.

 

2.2.3.6.1. Geld

Mit dem Austauschmittel Geld sind Banken, Steuern, Steuerberatung, Aktienhandel, Börsen, Preiskalkulationen, Löhne, Renten, Fahrscheinautomaten usw. verbunden.

 

2.2.3.6.2. Grenzen

Damit die Abgrenzung hoheitlicher physischer und geistiger Territorien gewährleistet ist, wird für die Grenzerrichtung, -erfassung und -verwaltung zwischen Staaten, Firmen und Privatgrundstücken gesorgt. Schließ- und Überwachungssysteme tun ihren Dienst. Zunehmende Bedeutung als Vermögen gewinnt die Information. Damit verbindet sich der notwendige Schutz von wissenschaftlichen und politischen Geheimnissen und wiederum deren Aufklärung durch Spionage. Doch auch Patentschutz ist nur unzureichend wirksam, das Geheimnis vieler Produkte wird eher durch mangelhafte oder verschleiernde Inhaltsangaben gewahrt. Der Verbraucher kann nicht mehr mitdenken und ist an die Gebrauchsanweisung gekettet.

 

2.2.3.6.3. Disziplin und Ordnung

Zur Herstellung von Disziplin und Ordnung bedarf es der Indoktrination von Moral und der Aufstellung und Durchsetzung von Gesetzten (Juristen, Polizei, Militär, Strafanstalten). Ein wirksames — oft unterschätztes — Instrument der Unterdrückung ist das verinnerlichte Schuldgefühl. Verharmlosend wird der Schuld die Funktion, Sünden zu verhindern, zugeschrieben, wohingegen Untersuchungen zeigen, daß die Schuld oft eine Ursache der Sünde ist.

 

2.2.3.6.4. Macht

Das System stabilisiert sich auch durch die gegenseitige Penetrierung der einzelnen Einflußnahmen. Aufwendungen zur Materialisierung von Macht: Administration, Lobbyarbeit und Prestige fallen darunter.

 

2.2.3.6.5. Ideologie

Die mit dem Entgrenzungsprozeß in der Renaissance einhergehende Flexibilisierung des gesamten Lebens (Geld, Tagelöhner, Taschenuhr, Buchdruck, Seefahrt, Astronomie) begann die starren Spielregeln der nackten Gewalt in Frage zu stellen. Seitdem gewann die geistige Tätigkeit gegenüber der körperlichen zunehmend an Bedeutung und der Besitz von Informationen wurde dem von materiellen Gütern gleich wichtig. Im Zuge dieser Vergeistigung übernahm ein neuer Kader im Dienste der Repression die Aufgabe, ferngesteuert die Fluten der aufbrechenden Dämme zu kanalisieren: die Ideologie. Sie berührt stark unsere Fragen nach Suggestierbarkeit und Weigerung und soll deswegen  etwas ausführlicher an fünf Beispielen unserer Epoche dargestellt werden. (Eine Kritik der spätkapitalistischen Ideologie wäre interessant, aber wie schon unter dem Punkt »Idealismus« ausgedrückt, sollte nicht die Kritik das Ziel definieren, sondern das Ziel die Kritik und deswegen besteht unsere vorläufige Aufgabe in der Konkretisierung der nächsten Etappe des gesellschaftlichen Ziels, ihrer Träger und des Weges dahin.)

 

1987/88 hatte ich das Modell der Potentiallandschaft eines Gesellschaftssystems formuliert und im Freundeskreis diskutiert, und es lag nahe, daß wir versuchten, beide deutsche Staaten darin wiederzufinden. Den Kapitalismus Westdeutschlands sah ich in einem tiefen lokalen Minimum, umgeben von einem hohen Potentialwall. Als Zielvorstellung des Sozialismus galt der Kommunismus in seiner Eigenschaft als Weg in Bereiche tiefster potentieller Energie, um sich der adäquaten Erscheinung  des menschlichen Wesens zu nähern. Mit der Schaffung des sozialistischen Seins wurden natürlich nicht der Mensch und sein Bewußtseins ausgetauscht. Bürgerliche Moral, Gier und Ängste überlebten den Paradigmenwechsel und standen dem neuen Sein feindlich gegenüber. Hätte dieses seine höhere Attraktivität in Bezug auf die Befriedigung der echten Bedürfnisse unter Beweis stellen können, wäre das — und nur das — die Grundlage für einen Bewußtseinswandel gewesen. Durch diese intermediäre Künstlichkeit vermutete ich das sozialistische System in einer Vertiefung auf dem Rücken des dazwischen liegenden Potentialwalls in einem eher metastabilen Gleichgewicht von geringer Lebensdauer mit der Option für eine Entwicklung in beide Richtungen. Immerhin war das System kein abgeschlossenes. Die massive Einflußnahme von außen zielte auf die Rückreaktion.

Weil mir im Gegensatz dazu der Kapitalismus relativ stabil erschien, hatte ich den Schluß gezogen, daß er kaum einer Ideologie bedarf. Das war ein Fehlurteil, das auch von der durch die Staatsgrenze gefilterten Wahrnehmung profitierte. Nach deren Öffnung zeigte mir die Praxis, daß der als Pluralismus bezeichneten Verstörung alleinigst nicht getraut wurde, und daß ein umfangreicher ideologischer Apparat mit hysterischen Strippenziehern jenseits des Atlantiks (z.B. Kongreß für kulturelle Freiheit) auf Touren gebracht wurde. Sie zeigte mir auch den Grund: mittlerweile waren — im Gegensatz zu einem Jahrhundert zuvor — das technische und wissenschaftliche Potential und die Kommunikationsmöglichkeiten soweit gereift, daß die realistische Möglichkeit einer ersten kommunistischen Variante in greifbare Nähe gerückt war. Da von dieser Seite die Hauptgefahr einer Veränderung des Systems lauerte, mußte nicht nur ein solches Ziel vernebelt, sondern effektiv diskreditiert werden. Dazu fünf Beispiele:

 

2.2.3.6.5.1. Die Vertauschung der Begriffe Kommunismus-Sozialismus

Man kann davon ausgehen, daß die Bewegung, die eine Sache über Jahrhunderte hinweg entwickelt und für deren Aufbau kämpft, notwendigerweise auch diejenige ist, die die Sache definiert und nominiert. Demgemäß war der Sozialismus eine Übergangsphase auf dem Weg zum Kommunismus. Über den letztgenannten sprachen in meiner Kindheit die Lehrer mit solcher verklärten Ehrfurcht, daß ich ihn als Synonym für Paradies verstand. Selbst wenn meine kindliche Erinnerung unkorrekt ist, steht fest, daß es nicht dem eingebildetsten Parteibonzen eingefallen wäre, den Zustand, in dem der Ostblock sein Dasein fristete, als Kommunismus zu bezeichnen. Ganz im Gegenteil: Selbst der Sozialismus, und damit sein Anspruch, wurde bescheiden und defensiv auf den real existierenden reduziert. Die Begriffe Kommunismus und Sozialismus hatten eine unverwechselbare Distanz wie Himmel und Erde. Gerade deswegen ist es bemerkenswert, wenn von der Gegenbewegung beide Begriffe konsequent verwechselt werden. Es wäre ein an Blindheit heranreichendes Wohlwollen, dies als puren Zufall, als Schlampigkeit des Westens, begründet im plausiblen Desinteresse an diesem Thema, abzutun. Ich habe zwei Lexika auf sämtliche Verwendungen des Wortes Kommunismus geprüft: keine Ausnahme. Auch im Sprachgebrauch der Bevölkerung im Osten Deutschlands zeichnet sich der Suggestionserfolg mittlerweile voll ab. Kommunismus wird nun gleichgesetzt mit den im Vorfeld beschmutzten Worten Bolschewismus und Stalinismus, als Warnung: wenn der Mensch das Schicksal der gesellschaftlichen Entwicklung selbst in die Hand nimmt, führt der Weg unweigerlich in eine Diktatur der Planwirtschaft, die blutig beginnt und kläglich scheitert. Quod erat demonstrandum. Wer das Wort Kommunismus heute noch sachlich ausspricht, wird einer Verhöhnung der Stasiopfer bezichtigt, und die gesamte Gesellschaft nickt das ab.

In diesem Zusammenhang kommt mir eine ideologische Glanzleistung in den Sinn. In »Vollstreckter Wahn« schafft es der Autor Martin Malia, Stalin zu entschuldigen: er war nicht der Urheber des stalinistischen Terrors, sondern nur der Vollstrecker des eigentlich Schuldigen: der kommunistischen Idee. Es ist vollbracht — heute ist fast die gesamte Menschheit gegen ein Ziel, das fast niemand kennt. Was bleibt ihr nun übrig? Die Wirtschaft weiter friedlich wachsen zu lassen, die soviel Soziales erwirtschaftet, daß das ganze System friedlich in den Sozialismus hinüberwächst (dessen revolutionärer Gehalt entschärft ist, nun da er nicht mehr die Vorstufe des Kommunismus sein muß). Geht man davon aus, daß das gelingt, bevor sich das System innerer Widersprüche wegen recht unfriedlich benimmt, gibt es dennoch ein Problem: je sozialer (Freizeit, Bildung) das System wird, desto mehr Möglichkeiten hat der Arbeiter, sich denkend mit seinen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Diese Erweiterung von Bewußtseinskapazitäten müßte im Interesse der Stabilität mit noch mehr Ideologie aufgefüllt werden. Und da bietet sich doch gleich an, ihm klarzumachen, daß dann nicht mehr das Kapital herrsche, sondern in den Dienst des Sozialen gestellt werde, den Wolfskapitalismus beendend.

 

2.2.3.6.5.2. Diktatur und Demokratie

Nachdem, wie im vorigen Punkt gezeigt, die kommunistische Idee und ihre stalinistische Verwirklichung als ein und dasselbe identifiziert wurde, kann nun eine weitere ideologische Herausforderung gemeistert werden: die darüber hinaus gehende Identifizierung mit dem Hitlerfaschismus. Das gelingt dadurch, daß als einzige zulässige Klassifikation für Gesellschaftssysteme — zumindest nach dem, im Lehrplan festgelegten, Geschichtsunterricht für Gymnasien zu urteilen — die Unterteilung in Diktatur oder Demokratie definiert wird. Die Frage ist, ob dieser ideologische Effekt — den »kommunistischen« Ostblock in die Nähe des abstoßenden Faschismus zu rücken und gleichzeitig dessen personelle, wirtschaftliche und politische Erben in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft davon wegzurücken — nur erwünschter Nebeneffekt einer ansonsten vernünftigen Unterteilung ist, oder ob hierin der einzige Grund für diese Klassifikation besteht. Ich kann jetzt hier logischerweise nicht abhandeln, was Demokratie und Diktatur wirklich bedeuten, möchte aber kurz auf einige Unklarheiten hinweisen, die sich durch den dialektischen Widerspruch zwischen Erscheinung und Wesen bei beiden zur Diskussion stehenden Begriffen ergeben.

Die Diktatur, die in ihrem Wesen von dem Diktat der grundsätzlichen Unveränderbarkeit des Systems geprägt ist, kann in verschiedenen Äußerungen in Erscheinung treten, z.B. diktatorisch als Zentralismus oder demokratisch in Form von Gewaltenteilung, Wahlfreiheit und Pluralismus.

Die Demokratie, deren Wesen im Mitbestimmungsrecht der gesamten Bevölkerung besteht, kann ebenso diese beiden Erscheinungsformen aufweisen. Daraus ergeben sich vier Kombinationsmöglichkeiten. Umgekehrt und etwas vereinfachend ausgedrückt heißt das auch, daß sich hinter einer diktatorischen Erscheinung entweder ein diktatorisches oder ein demokratisches Wesen verbirgt und ebenso hinter einer demokratischen Erscheinung. Und es ist der Regelfall, daß ein bestimmtes System bei Beibehaltung seines Wesens auf äußeren Druck reagierend seine Erscheinung ändert. Z.B. greift in Zeiten des akuten Bedrohtseins jedes System, genauso wie jede kleinere Gruppierung, zu diktatorischen Maßnahmen und zur Zentralisierung, um schnell und koordiniert handeln zu können. Nehmen wir z.B. die ersten Jahrzehnte des 20. Jhd., als die Weltpolitik von zwei entgegengesetzten Tendenzen beherrscht war: erstens die allgemeine revolutionäre Bewegung mit der Revolution 1917 in Rußland und zweitens die Angst der westlichen Mächte, daß sich diese Bewegung in ihren eigenen Ländern oder Kolonien ausbreiten könnte. Die Hauptfront verlief zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Egal ob eine gegenseitige Bedrohung objektiv vorliegt oder nur eingebildet ist, ist es nachvollziehbar, daß sich die Kräfte an der Front radikalisieren. Deswegen wurden die reaktionärsten Kreise Deutschlands im Aufbau eines faschistischen Bollwerks gefördert gegen das Besorgnis erregende Beispiel aus dem Osten. Die Sowjetunion war von innen und von außen von einer Konterrevolution bedroht. Stalin, der — vielleicht begründet — an Verfolgungswahn litt, dem er mit uneingeschränkter Kontrolle zu begegnen versuchte, hätte in dieser Situation keinen dezentralisierten Wirtschafts- und Politapparat aufbauen können. Daß sich mit Hitler und Stalin zwei kranke Diktatoren gegenüber standen, sagt nicht viel über das Wesen der sich bedroht fühlenden Systeme, deren Gesellschaftsziel oder die zu verteidigenden Werte aus. Wir sehen zwei Systeme, die sich in ihrer Erscheinung zwangsläufig ähneln: nämlich in einer diktatorischen Zentralisierung zur Lösung akuter Probleme, die in ihrer sturen Radikalität das innenpolitische Risiko einkalkuliert, die Stabilität des eigenen Systems, die doch damit gerade erzwungen werden soll, zu verlieren.

Jene Systeme, die wir als faschistisch bezeichnen, sind neben ihrer offensichtlich diktatorischen Erscheinung auch in ihrem Wesen eine Diktatur. Der Terminus nationalsozialistisch kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich imperiale Interessen der Großindustriellen mit feudalen Ansichten der faschistischen Führer legierten, um die reaktionäre Politik solcher Länder zu fixieren. Diese reaktionäre Ausrichtung ist im Mißtrauen gegenüber der Selbstregulierung des freien und dezentralisierten Marktes und in einer Empörung über die Säkularisierung aller ideellen Werte begründet.

Darin liegt der hauptsächliche Unterschied zu einem demokratisch in Erscheinung tretenden Kapitalismus. Gerade aber die enorme Menge an investierter Stabilisierungsenergie (deren Aufführung hier noch lange nicht abgeschlossen ist) zeigt, daß sowohl dieser als auch jener Kapitalismus ein System ist, welches bewußt Energie für Stabilisierungszwecke verbraucht mit dem Ziel der grundsätzlichen Verhinderung eines Übergangs in potentialärmere Zustände. Genau darin würde ich das Wesen der Diktatur sehen. Das ist unabhängig davon, ob die konkrete Methode durch wenige starr-zentralistische oder viele elastisch-dezentrale Einzelmaßnahmen und Regelungen gekennzeichnet ist. Die Gemeinsamkeiten zwischen Faschismus und Kapitalismus kann die unterschiedliche Methode zwar verschleiern, aber nicht ausschalten. Doch es gibt selbst in der Methode Analogien der Stabilisierung:

In beiden entfremdeten Systemen gelten Spielregeln, die den Menschen individuell und gesellschaftlich kastrieren. Zwar kann er in seltenen Fällen eine Persönlichkeit entwickeln und sich individuell verantwortlich zeigen, aber im gesellschaftlichen Rahmen ist es ihm nicht gegeben, über die Produktion und Verteilung der gesellschaftlichen Güter Verantwortung zu übernehmen. Der daraus resultierende latente Minderwertigkeitskomplex kann durch Ersatzbefriedigung nicht gelöst und auch immer nur unzureichend verdeckt werden. Um die Gesamtheit der Bevölkerung zu stabilisieren, bedarf es einer bevorzugten Elite, die so konditioniert ist, daß sie Gefallen an der Rolle findet und für den Rest der Menschen zum ersehnten Lebensideal wird und einer diskriminierten Schicht, die einerseits als abschreckendes Beispiel fungiert und andererseits der sich damit herausbildenden Mittelschicht als Aufwertung dient und ihr ein verachtendes Herabblicken gönnt. Diese Rolle mußten im Hitlerdeutschland die Juden spielen, in Amerika die Schwarzen und allgemein in allen kapitalistischen Ländern die Arbeitslosen.

Für den heutigen ideologischen Distanzaufbau zum deutschen Faschismus wird die ins Auge fallende Irrationalität des Rassenwahns ausgenutzt bei der Maskierung der Tatsache, daß es einen politischen Klassenkampf gab. Denn es wurden neben den Juden genauso Kommunisten, Gewerkschaftler und kritische Intellektuelle in die Konzentrationslager deportiert. Schon die Vorläufer der Faschisten, die Lynchkommandos der Freicorpskämpfer, pflegten die Ambition, sich organisierende Arbeiter hinzurichten. Um von politischen und wirtschaftlichen Fakten abzulenken wird heute die judenfixierte Irrationalität genauso überbetont wie die stilistische Aversion gegenüber dem Expressionismus bei der Aktion »Entartete Kunst«. Denn die Werke der Expressionisten wurden ins Ausland verkauft, den inszenierten Verbrennungen fiel nichts dergleichen zum Opfer, auch wenn das kürzlich erst in einem neu gedrehten Film zu sehen war. En passent konnte der sozialistische Realismus unbemerkt beseitigt werden.

 

Zur Unterscheidung von Demokratie und Diktatur werden zweckdienliche Kriterien, wie Parlamentarismus, Gewaltenteilung und Pressefreiheit bestimmt, so daß der Faschismus jenseits und der Kapitalismus diesseits der Grenze liegt. Diese Kriterien existieren nur formell und deswegen auf der Ebene der Erscheinungen. Über die tatsächlichen Möglichkeiten des Individuums, die Gesellschaft zu gestalten, sagen sie genauso wenig aus, wie über die historische Tendenz des Systems. Wenn diese Unterscheidung ernsthaft gewollt wäre, vorausgesetzt es gelänge eine klare Definition des Wesens von Diktatur und Demokratie, dann muß berücksichtigt werden, daß das Vorhandensein einzelner Attribute allenfalls notwendig aber keinesfalls hinreichend ist. Es müßte ein umfassender Katalog relevanter Merkmale, die die Lebenswirklichkeit eines Volkes und das innen- und außenpolitische Agieren des Staates unverfälscht charakterisieren, aufgestellt werden. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler P. A. Baran hat dies untersucht und zeigt in seiner Schrift »Faschismus in Amerika«, daß die dortigen Verhältnisse einer faschistischen Diktatur ähnlich sind. Diese Veröffentlichung ist von 1952, also noch am Anfang der McCarthy-Ära, vor Vietnamkrieg (»Gespräche mit Amerikanern« von Mark Lane!) und bevor Zbignew Brzezinski Schach zu spielen begann. In seinem Buch »Die einzige Weltmacht« entwickelt der Sicherheitsberater, der jahrzehntelang und bis heute die Außenpolitik der USA maßgeblich  mitgestaltete, die Strategie zum Aufbau eines 1000-und-mehr-jährigen Reiches. Aber wenn der Autor von Frieden spricht, meint er eine störungsfreie Regulation des Weltgeschehens durch die »einzige ... und ... ewige Weltmacht«. Das Neuartige in seinem Kampf besteht in praxi darin, daß der Krieg psychologischer ist, daß die verdeckten Operationen noch verdeckter sind, daß sich Bürgerkrieg initiieren, eine Militärdiktatur aufbauen, das Volk vom Diktator befreien, dabei Infrastruktur zerstören, Aufbauhilfe leisten, Demokratie exportieren und ein Kredit mit Rohstoffen zurückzahlen läßt. Kurz gesagt: wie man Opfer auf der eigenen Seite vermeidet und Krieg führt, ohne in Erscheinung zu treten. Am 12. September 2001 brachte Peter Struck im Namen der deutschen Regierung vor dem Bundestag eine tiefsinnige Selbstanklage zum Ausdruck: »Wir sind alle Amerikaner«. Es sollte mit der Skala vom Hitler-Deutschland über Amerika zum Heute-Deutschland gezeigt werden, daß auf der Ebene der Erscheinung zwischen Diktatur und Demokratie ein Kontinuum besteht. Ich hätte Amerika auch auslassen können.

 

Kommen wir nun zu den Unrechtsstaaten: Es ist schon paradox: Die Verfälschungen, die unaufhörlich überall vor- und nachgebetet und mittlerweile schon mit der Muttermilch weitergegeben werden, sind in ihrer Einhelligkeit dermaßen totalitär, daß selbst jemand, der ein Jahr von der Stasi verhört wurde, die Verpflichtung spürt, korrigierend einzugreifen. Vor allem möchte ich zeigen, daß und warum der Sozialismus in seiner Erscheinung eine Diktatur, aber in seinem Wesen eine Demokratie war, und daß die Gefahr, dieses Wesen zu verlieren, dort lag, wo sie weniger vermutet wird. Einen ersten Grund für diktatorische Maßnahmen hatte ich schon mit der gegenseitigen Bedrohung genannt. Der zweite Grund liegt in der angedeuteten Dialektik zwischen Sein und Bewußtsein. Das Bewußtsein ist die Reflexion des Seins und geht bei der Gestaltung des Seins immer von sich selbst aus, also vorrangig restaurativ. Ein Bewußtseinswandel kann daher nur von einem Seinswandel begleitet werden und ist nur iterativ problemlos möglich. Die Umwälzungen 1917 in Rußland und 1945 in Osteuropa stellten einen schroffen Wandel des Seins dar, der für das Bewußtsein schwierig, mit Leid verbunden oder kaum überbrückbar war. Eine Schuldzuweisung deswegen an die Initiatoren des neuen Systems wäre völlig abwegig, denn das Maß für die Schroffheit liegt ja gerade darin, wie lange in dem überwundenen System die ausgereiften Potentiale künstlich und gewaltsam blockiert wurden. Mit dem Seinswandel verändern sich auch grundlegend die Spielregeln. Überlebens- und Anpassungsstrategien, Verhaltensmuster und Motive, die der Betreffende im alten Paradigma erlernt und perfektioniert hat, sind nun unnütz oder wirken sich für ihn persönlich und die Gesellschaft zum Nachteil aus. Doch die Paradoxie der menschlichen Psyche besteht darin, daß bei ungenügender Wirksamkeit von Verhaltensmustern der Betreffende sich umso stärker an sie klammert. Auch wenn dieses neue Sein in seiner geschichtlichen Tendenz richtig, also für einen Weg in potentialärmere Zustände offen ist, dann bedarf es einer zentralistischen (notfalls auch diktatorischen) Konsolidierung über einen gewissen Zeitraum, bis das gesellschaftliche Bewußtsein realisiert hat, daß das neue Sein dem menschlichen Wesen adäquater ist. Die Schwierigkeiten bestehen einerseits darin, das neue System so zu stabilisieren, daß es vor einer sehr wahrscheinlichen Rückreaktion gefeit ist, ohne dabei den eigenen beabsichtigten Weg zu blockieren und andererseits, daß der Beweis der höheren Adäquatheit durch das Sein erbracht werden muß und nicht durch Propaganda (siehe Robert Havemann: »Dialektik ohne Dogma«). Ein weiterer dialektischer Widerspruch wurzelt darin, daß die verantwortungsbewußte gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittel das Gemeinschaftsgefühl als Voraussetzung braucht. Andererseits kann dieses echte tiefe Gemeinschaftsgefühl, wie schon gezeigt, nicht entstehen, solange noch eine Fixierung am Privateigentum vorliegt. Die schrittweise Loslösung vom Privateigentum setzt die gelungene Loslösung vom Privateigentum an Produktionsmitteln voraus. Dieser höchst sensible, umfangreiche und langwierige kausale Kreis zwischen Enteignung und Aneignung durch das Volk muß mittels administrativer Kontrolle und einem (eigentlich dem Gemeinschaftsgefühl kontraproduktiven) Leistungsprinzip überbrückt werden. Die sozialistischen Länder sind an der Aufgabe gescheitert, die verstaatlichten Produktionsmittel zu vergesellschaften. (Dieser schwerwiegende Fakt, nämlich daß die Bevölkerung es ablehnte, die angebotenen Produktionsmittel sich anzueignen, zeigt, wie absurd jeder Versuch ist, durch äußere Merkmale den Sozialismus und den Faschismus in eine Schublade zu stecken. Denn das Angebot stand dort nie.)

Die sozialistische Propaganda konnte nicht verhindern, im Gegenteil, sie verstärkte es wesentlich, daß der Einzelne sich unterdrückt fühlte und gleichzeitig die damit verbundene Geborgenheit genoß. So etwas macht leichtsinnig. Wie ernst der Kalte Krieg war, hat die östliche Bevölkerung nie begriffen. Welches nun die primäre Ursache für das Scheitern war, läßt sich genauso wenig sagen, wie im Krankheitsfall, ob es am Immunsystem oder am Virus lag.

Allerdings gibt es noch eine weitere bedeutsame Fragestellung, nämlich ob die historische Tendenz überhaupt noch die richtige war. Für solches Abweichen vom Ziel sind innere und äußere Ursachen auszumachen. Der Kalte Krieg auf militärischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene zwang das sozialistische System zu einer Anpassung. Diese Anpassung kann statisch (die treibenden Kräfte bleiben erhalten, aber die Schwerpunkte werden temporär verlagert) oder dynamisch sein (verbunden mit einer Änderung der treibenden Kräfte). Eine solche dynamische Anpassung blieb vermutlich nicht aus, da die Aufmerksamkeit der Theoretiker des Sozialismus in der realpolitischen Auseinandersetzung mit dem Gegner völlig absorbiert wurde und sie ein kommunistisches Ziel weitestgehend aus dem Auge verloren. Aber auch innere Ursachen gab es von Anbeginn des sozialistischen Aufbaus. Der dialektisch-historische Materialismus ist in praxi nicht dem Anspruch seiner Protagonisten, eine offene wissenschaftliche Metatheorie zu sein, gerecht geworden. Die Aneignung der Psychoanalyse, in der Sowjetunion anfänglich noch versucht (1921 Gründung des Psychoanalytischen Kinderheims in Moskau), wurde später von Stalin gebremst. Ebenso in der Weimarer Republik: Die Arbeiterklasse, voller Stolz Träger der historischen Mission zu sein, glaubte dem Bürgertum ihre Überlegenheit zeigen zu müssen. Da sie aber wirtschaftlich eindeutig unterlegen war, konnte sie das nur auf der Ebene der Moral. Aber welcher? Sie hatte ja nur die bürgerliche! In der Psychoanalyse sahen ihre Führer eine Beschäftigung mit niederen Instinkten und lehnten sie ab nach dem Motto: Reich will doch nur aus unseren Turnhallen Bordelle machen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Psychoanalyse im Ostblock überhaupt keine Rolle zu spielen.

War mit diesem Abweichen vom Kurs der Sozialismus noch ein entfremdeter Kommunismus (als diktatorische Erscheinung eines demokratischen Wesens), oder hatte er sein Wesen bereits verändert? Impliziert nicht die fanatische Vehemenz des ideologischen Kampfes der antikommunistischen Liga eine Antwort auf die Frage? Nämlich, daß sie einer Verwirklichung der kommunistischen Idee noch enormes Potential bescheinigt.

 

Eine Demokratie in Wesen und Erscheinung wäre ein System, das der Mitbestimmung aller nicht nur das Recht erteilt, sondern ihnen alle dafür notwendigen Voraussetzungen liefert. Das wäre in der adäquaten Gesellschaft der Fall, und der Kommunismus ein Weg dahin.

 

Diese Auseinandersetzung abschließend, denke ich, daß eine Klassifikation von Gesellschaftssystemen in Diktaturen und Demokratien, gerade weil die Gefahr besteht, daß die Argumentation die Ebenen von Wesen und Erscheinung überkreuzt, unbrauchbar ist und vorrangig ideologische Absichten verfolgt.

Mehr wissenschaftlichen Charakter hat eine Klassifikation, die sich auf die Analyse der treibenden Kräfte stützt. Die den Gesellschaftscharakter der uns aus der Geschichte bekannten Systeme primär bestimmende Größe ist die Gesamtheit der Beziehungen, in der die einzelnen Gesellschaftsschichten zu den Produktionsmitteln stehen. Insofern ist eine Klassifikation in Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus und Kommunismus überlegen. Ein System, im Teufelskreis von Kapitalakkumulation und Konkurrenzkampf gefangen, in dessen Entwicklung alles in Kapital verwandelt wird und dieses in einen Fetisch, in einen Ismus, findet keine adäquatere Bezeichnung als Kapitalismus. Und nach dieser Lesart ist ein Faschismus auch nur ein Kapitalismus.

 

(An diesem Punkt sind alle von mir bisher diktierten Texte erschöpft. Um die noch folgenden und zum Verständnis der Gesamtheit notwendigen Gedanken zu äußern, werde ich ab jetzt stichpunktartig den Text fortsetzen)

 

2.2.3.6.5.3. Freiheit als Wahlfreiheit

Wirkliche Freiheit wäre, wenn:

-         voraussetzender Akt (Unabhängigkeit) und

-         erfüllender Akt (Fähigkeit & Motiv) vorhanden sind.

Das schließt aus: Wünsche verfolgen, die aus objektiven Gesetzmäßigkeiten nicht zum Erfolg führen.

Das setzt weiterhin voraus: Selbstbewußtsein (d.h. zu wissen, woher die Wünsche kommen, ob sie wirklich meine sind, welchen Zweck sie wirklich haben).

Dem Selbstbewußtsein und der Unabhängigkeit als Voraussetzung für Freiheit wirkt entgegen:

-         massive Beeinflussung durch Suggestion

-         Autosuggestion und Rationalisierung

-         Ideologie und konformistischer Zwang

-         kritiklose Aneignung der Spielregeln

Der Fähigkeit und dem Motiv zur Freiheit steht entgegen:

-         ungenügende Kenntnisse

-         ungenügender Gemeinschaftssinn (resultierend aus dem Aufwachsen unter Konkurrenzdruck)

-         Unkenntnis der eigenen rationalen Motive, da sich die irrationalen oft in den Vordergrund schieben

-         ambivalente Haltung zur Verantwortung

 

Wozu ist die Freiheit eigentlich notwendig?

Zur Befriedigung der angeborenen Bedürfnisse (siehe Wesen des Menschen).

Fazit:

-         Voraussetzungen werden stark beeinträchtigt

-         Erfüllende Fähigkeiten sind kaum vorhanden

-         Die Nichterfüllung unbedingter Bedürfnisse übt zwar einen Leidensdruck aus, aber da die Bedürfnisse kaum bekannt sind, erfolgt keine Abhilfe. Stattdessen Schaffung von Pseudobedürfnissen, Fixierung an diese und industrielle Absättigung

→ keine Freiheit

Stattdessen: Wahlfreiheit innerhalb der Pseudobedürfnisse. Zu Wahlfreiheit fasse ich verschiedene Aspekte zusammen, die man wählen kann:

-         welche Produkte man kauft

-         welche Partei man wählt

-         welches Reiseziel man bestimmt

-         welche Krawatte man umbindet

-         welche Meinung von den vorkonsumierten man äußert

-         welchen Fernsehsender man einknipst

 

Diese Wahlfreiheit basiert auf einer derartigen Normierung des Einzelnen, daß er meint, der ihm zur Verfügung gestellte Handlungsspielraum sei identisch mit der Gesamtheit aller Möglichkeiten und er darüber hinaus übersieht, daß auch innerhalb des Rahmens nur eine bereits von anderer Seite aus getroffene Vorauswahl zur Wahl steht.

Eine Freiberger Schulklasse war in zwei gleichgroße Fan-Lager gespalten: die eine Hälfte liebte Michael Jackson, die andere die Kelly-Family. Die Situation war gekennzeichnet von hingabevoller Verehrung der Idole, Feindschaft zwischen den Lagern und davon, daß sie alternativlos war — es gab niemanden, der sich traute außerhalb zu bleiben oder gar einen dritten Musiker ins Spiel zu bringen. Es ist völlig klar, daß der Entscheidung, sich dem einen oder anderen Lager zuzuwenden, nicht der Musikgeschmack zugrunde liegt, sondern das identitätsstiftende Bekenntnis zu den Personen des harten Kerns der einzelnen Lager.

Der Fall ist zwar kraß, aber sicher kein Einzelfall. Das Argument: es bestünde doch — rein rechtlich — die Möglichkeit, davon auszubrechen, ist zwar richtig, aber theoretische Spekulation. Weil es eben völlig belanglos ist, um welche Musik es sich handelt (dreißig Jahre zuvor hätte sich eine Klasse aus gleichen Gründen in Sweet- und Bay-City-Roller-Fans geteilt), sondern es wirken gesellschaftliche Bedingungen in die Klasse hinein, die zu irgendeiner Anpassung zwingen. Daß diese lustvoll und eigeninitiatorisch erfolgt, verwandelt den Zwang in eine scheinbare Freiheit, sozusagen in eine Wahlfreiheit. Gerade der gebetsmühlenartige Drill und sein offensichtlicher ideologischer Zweck, mit dem der Glaube an Freiheit eingebleut werden soll, konterkarieren bei einem kritischen Menschen genau diesen Glauben.

 

2.2.3.6.5.4. Verleugnung des menschlichen Wesens

Die Choreographie der zahlreich vorhandenen Literatur ähnelt sich: eingeleitet mit dem Aufzählen der sündhaftesten Vergehen in der Menschheitsgeschichte, fortgesetzt mit der Klage über die schrecklichen Zustände, kontrastiert mit einem Streifzug durch mögliche Utopien kommt der Kontrapunkt der nüchternen Erkenntnis, daß diese alle an einem Faktum scheitern: am menschlichen Wesen. Denn das sei aggressiv und egoistisch. Den Menschen in eine bessere Gesellschaftsordnung zu zwingen, mache ihn nur widerspenstig oder psychisch krank. Also kann es nicht Aufgabe der Kultur sein, nach neuen Gesellschaftsformen zu suchen, sondern nach geeigneten Sublimationsmöglichkeiten für das zivilisierte Entäußern der Aggression. Da bietet sich Sport an oder Rockmusik. Zur Begründung des Egoismus′ wird die Darwinsche Lehre auf′s Unlogischste deformiert: der »Einzelne muß seine Gene durchsetzen« und manchmal auch mit einem Tierfilm untermalt, in dem der eine Löwe einen anderen beißt.

 

2.2.3.6.5.5. Unsere Kultur — ein Exportschlager

Teil der systemstabilisierenden Ideologie ist auch die Erzeugung eines Glaubens an die Alternativlosigkeit unserer Kultur. Dazu muß mit mehr oder weniger friedlichem Engagement unsere Lebensweise in alle Länder der Welt exportiert werden. Soziale Unruhen in anderen Staaten werden genutzt oder erzeugt, um sie in der massenmedialen Berichterstattung so zu interpretieren, daß sich die Völker der Welt nach einer Demokratie, wie es die unsere ist, sehnen.

 

2.2.3.6.5.6. Zusammenfassung Ideologie

Die Kernaussage der Ideologie lautet: Es ist eine weltweite Sehnsucht nach einer demokratischen Marktwirtschaft zu beobachten, denn sie bietet mehr Freiheit als alle bekannten und denkbaren Modelle. Wer dennoch gewissen Unzulänglichkeiten kritisch gegenüber steht, sollte sich einerseits klarmachen, daß es keine prinzipielle Alternative gibt, denn der kommunistische Versuch ist praktisch gescheitert — das zeigt der Geschichtsprozeß — und ist auch theoretisch zum Scheitern verurteilt, da die zugrunde liegende kommunistische Idee (die diktatorische Gleichmacherei) dem Wesen des Menschen widerspricht; und andererseits sollte er begreifen, daß jene Unzulänglichkeiten genau in diesem Wesen begründet sind und nicht im ökonomischen System.

Die Ideologie ist deswegen systemstabilisierende Energie, da sie für ihre Erzeugung und Verbreitung Energie verbraucht, und sie ist insofern systemstabilisierend, weil sie tatsächlich zum großen Teil konsumiert wird. Die Ideologie in ihrer heutigen Form ist höchst wirkungsvoll, weil sie in suggestiv aufbereiteter Form vorgetragen wird (z.T. mit Hilfe von Fachleuten aus der Werbebranche oder Psychologen, z.B. die Brutkastenstory der Pro-Golfkriegkampagne 1990 der PR-Agentur Hill & Knowlton), und weil sie auf die enorme Suggestierbarkeit des Menschen trifft. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von Propaganda, weil sie Ängste unterschwellig erzeugt, die mit mitgelieferten Illusionen verdrängt werden, so daß der Mensch von den Illusionen abhängig wird. Diese Illusionen stehen in Konkurrenz zu den realen Möglichkeiten und verdrängen diese aus dem Gesichtskreis. Über die Mittel der Ideologieverbreitung verfügt nur der, der die politische oder ökonomische Macht hat. Sein Ziel ist die Konservierung oder Erweiterung dieser Macht. Dabei kann er mittels der Ideologie tief in den zu beherrschenden Menschen eindringen, ihn nicht einfach nur statisch, sondern dynamisch und nachhaltig verändern und dabei — was nie ausbleibt — verletzen. Das steht in einem bemerkenswerten Widerspruch zu sonstigen Gesetzen, die das ungebetene Eindringen in fremde menschliche Körper verbieten, ja sogar in jegliche physische Territorien; die sogar die Emission von Schall und Abgasen limitieren. Nur die Emission von Ideologie ist erlaubt, nicht nur das, sie wird zum Lehrplan in der Schule, zum Prüfungsbogen für Einwanderungswillige usw. Die an dieser Stelle scheinbar plausible Frage, warum das erlaubt ist, ignoriert den geschichtlichen Prozeß. Denn früher war jegliches Perforieren den Machthabern gestattet. Daß der physische Sektor heute geschützt wird, liegt zum einen am bisher erreichten Level der Unterdrückten in ihrem Befreiungskampf und zum anderen daran, daß die unterdrückende Seite festgestellt hat, daß es mit weniger Aufwand verbunden ist, die Zuunterdrückenden mit einem implantierten Empfänger fernzusteuern. Sie sind nun nicht mehr Unterdrückte, sondern Rezipienten. Ähnliches hat Marx schon an der neuen Moral des Protestantismus beobachtet: »Luther ... hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt, ... er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat«. So steht stattdessen die berechtigte Frage, warum der Mensch sich nicht mittlerweile soweit erhoben hat, auch seinen psychischen und geistigen Sektor zu schützen und vor allem, warum er die Ideologie so willig aufnimmt. Nun, weil die Ideologie als Rationalisierung dient. Die allgemeine Verfassung ist doch: Mutlosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Utopien, Angst vor Konflikten bei politischem Engagement, die Illusion, selbst irgendwann zur bessergestellten Schicht zu gehören und das aus dieser Komplizenschaft mit der Macht resultierende Schuldgefühl. Hieraus erwächst eine widersprüchliche Haltung: die Verhältnisse konservierend, aber unzufrieden. Ein typisches Dilemma der menschlichen Psyche, welches zu verdrängen und rationalisieren der Mensch gezwungen ist, wenn er es nicht lösen kann oder will. So ist jeder Einzelne damit beschäftigt, Rationalisierungen zu kreieren, kopieren, kombinieren, optimieren und im Kollektiv zu kommunizieren, die an sich schon einem konservativen Motiv dienen, so daß die lenkende Hand der ideologischen Chefetage nur noch zwischen ihr mehr oder weniger nützlichen Ideen auswählen und für deren Verbreitung sorgen muß. Vereinfacht gesagt, ist die Ideologie ein gesellschaftliches Gesamtprodukt, welches die menschliche Schwäche entschuldigt und deswegen so freiwillig konsumiert wird.

Muß unter den gegebenen Aspekten von Ideologie, Suggestierbarkeit und Rationalisierungen (die Komponenten für den Aufbau von Vorurteilen) dem Menschen jede Mündigkeit abgesprochen werden? Natürlich nicht, es ist gerade der Sinn dieses Textes, herauszufinden, welche Gegenmittel der Mensch besitzt. Das wäre z.B. eine Wissenschaftlichkeit, die den eigenen Vorurteilen rücksichtslos gegenübertritt. Wobei deren Überwindung nur sukzessive gelingt, denn der Mensch ist oft nur bereit, eine Wahrheit zu glauben, die nicht allzu weit vom Vorurteil abweicht.

Vorurteile müssen nicht immer negative sein. Es gibt auch positive: das würde unsere Regierung nie tun. Der Täter kann von dem Paradoxon profitieren, daß die Absurdität der Tat vor ihrer Entlarvung schützt.

 

2.2.3.6.6. Entfremdung

In dem Maße, wie die konkrete Gesellschaft von der adäquaten abweicht, ist durchschnittlich auch jeder Einzelne entfremdet. D.h. er kann seine Bedürfnisse nicht befriedigen, sondern hat die ihm aufgezwungenen Ersatzbedürfnisse akzeptiert. Er kann sich nicht selbst produktiv (das schließt das Geistige und Kreative mit ein) verwirklichen, sondern erfüllt eine Aufgabe, die er mehr oder weniger als die seine annimmt. Kurz: er spielt eine Rolle, die mehrere kompliziert ineinander greifende Ebenen hat:

deren objektiven äußeren Zwang er erkennt, falls er vorhanden ist;

der er einen objektiven äußeren Zwang rationalisierend andichtet, um sie weiter spielen zu können;

deren objektiven äußeren Zwang er verdrängt und als seinen Wunsch rationalisiert;

gegen die er rebelliert, sie aber dennoch verteidigt, wenn sie von anderen kritisiert wird;

deren Ende er herbeisehnt, es aber immer vor sich herschiebt usw.

Diese Vorgänge sind mit andauernder Nerventätigkeit verbunden, die Energie verbraucht. Wiederum Energie, die nicht mehr nutzbar zur Verfügung steht, sondern die das System zu seiner Stabilisierung im entsprechenden (entfremdeten) Zustand verbraucht. Ein weiterer Energieverlust ist mit dem Rollenspiel dadurch verbunden, daß jeder Einzelne nur einen Bruchteil der Produktivität erlangt, die er hätte, würde er seine volle Authentizität erreichen.

 

2.2.3.6.7. Befriedigung der Pseudobedürfnisse

Daß des Menschen unbedingte, objektive Bedürfnisse größtenteils unbefriedigt bleiben, ist nicht nur eine Folge der unzulänglichen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern Voraussetzung für die Konsumbereitschaft der ihm aufgezwungenen Produkte, damit Legitimation deren Produktion und Profitrealisierung der Produktionsmitteleigentümer und damit letztlich eine der wichtigsten Ursachen dieser unzulänglichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Darüber hinaus ergibt sich über die Erzeugung und Befriedigung von Bedürfnissen (das schließt auch die spirituellen, emotionalen und sexuellen mit ein) eine Möglichkeit, nahezu das gesamte menschliche Verhalten zu steuern. Somit schlägt nicht nur die Produktion des größten Teils aller Konsumgüter (inklusive der Massenmedien und Unterhaltungsemission), sondern auch alle Anstrengungen der Marketingbranche, der Umweltverschmutzung durch Reklame und die für den Konsum verbrauchte Zeit als Systemstabilisierungsenergie zu Buche.

 

2.2.3.6.8. Religion und Kirche

üben Funktionen aus, die denen unter »Disziplin & Ordnung« und »Ideologie« dargestellten ähnlich sind.

 

2.2.3.6.9. Sozialmaßnahmen und Förderprogramme

Die anderen Systemstabilisierungsmaßnahmen richten ihr jeweiliges Augenmerk immer auf ein zu stabilisierendes Problem und erzeugen ihrerseits Ursachen für Instabilitäten oder Probleme anderen Ortes, z.B.:

-   daß die Bildung weiträumig wegbricht

-   daß bestimmte Berufszweige notwendig, aber nicht rentabel sind

-   daß wirtschaftliche Innovation stimuliert werden muß, ehe sie rentabel  wird

-   Reputationskonkurrenzkampf einzelner Staaten untereinander (auch wiederum nützlich für Kulturexport und Einflußnahme)

-   daß Bevölkerungsschichten sich benachteiligt fühlen, aggressives Stimmungspotential entsteht

-   daß regierende Parteien an der Macht bleiben wollen, auf die Gunst der Wähler angewiesen sind und deswegen populäre Maßnahmen fördern usw.

Es handelt sich hierbei im Vergleich zur restlichen Stabilisierungsenergie um geringe Beträge; es ist sozusagen die Feinjustierung des Systems.

Ohnehin sind es nicht die ausgezahlten Gelder, die hier zählen, sondern die damit Beschäftigten beim Entwurf und der Planung der Maßnahmen, die kriminelle Energie bei der mißbräuchlichen Ausnutzung, die daraufhin erforderliche Kontrolle, der legale aber nicht zweckbestimmte Gebrauch, die deswegen notwendige Nachregelung der Bestimmungen uswusf.

Im allgemeinen herrscht Übereinkunft, daß die Sozialmaßnahmen einer Schaffung von Gerechtigkeit dienen, die die »freie Marktwirtschaft« von sich aus nicht herstellen kann. Doch von welchem Axiom wird diese Gerechtigkeit abgeleitet? Vom Recht? Aber dies zeigt sich veränderlich, wird manchmal — gerade im Sinne der Gerechtigkeit — neu angepaßt, ist also kein Axiom. Vielleicht haben Recht und Gerechtigkeit einen gemeinsamen Grundsatz: den der Richtigkeit.

Das Richtige zu suchen hieße zumindest:

1.      von eigenen kurzsichtigen Interessen abstrahieren zu können

2.      um gesellschaftlichen Experimenten und Erkenntnissen gegenüber offen zu sein

3.      dabei Verzicht auf eine Ideologie, die eigentlich jede Veränderung bekämpft

4.      sich um eine wahrheitsgemäße Theorie des menschlichen Wesens zu bemühen

5.      die diesem Wesen adäquaten gesellschaftlichen Randbedingungen zu definieren

6.      um davon das Richtige abzuleiten.

Doch die vorzufindende Form der systemstabilisierenden Gerechtigkeitsschaffung verfolgt den Zweck, genau diese Schritte zu verhindern.

 

2.2.3.6.10. Zusammenfassung der Systemstabilisierungsenergie in der heutigen entfremdeten Gesellschaft

Allein die bisher erfassten systemstabilisierenden Maßnahmen ergeben ein Regelwerk, welches ein gigantisches Volumen verschlingt, von dem, nebenbei bemerkt, die riesigen Rüstungsausgaben nur einen Bruchteil ausmachen.

Der Verbrauch betrifft nicht nur den größten Teil aller erwirtschafteten Güter, sondern auch der verfügbaren natürlichen und menschlichen Ressourcen. Vielleicht bleibt noch ein Prozent übrig, welches der betrachtete Teil der Menschheit zur Bedürfnisbefriedigung nutzen kann. Aber neunundneunzig Prozent geben wir hin, um eine alle Mitglieder unserer Gesellschaft unterdrückende Stabilität zu erreichen. Sollte hierin vielleicht das Axiom für Gerechtigkeit liegen: in der organisierten Vernichtung fast aller Werte, um sicherzustellen, daß »Unbefugte« sich  nicht zuviel nehmen, auch wenn für jeden das Hundertfache dessen, was für seine Befriedigung notwendig ist, verfügbar wäre, gäbe es diese Gerechtigkeit nicht? Mancher Kritiker meint, die Ökonomie dient nicht mehr dem Menschen, sondern der Mensch der Ökonomie. Das mag stimmen, doch bleibt zu ergänzen, daß, wenn der Mensch der Ökonomie dient, diese ziemlich unökonomisch wird.

Eine Fabel, die wir in der Schule behandelt hatten, erzählte davon, daß zwei Igel das Glück hatten, einen großen Käse zu finden. Ratlos standen sie vor dem Problem einer gerechten Teilung, zu der eigentlich nur der Fuchs imstande war. Er biß den Käse etwa in der Mitte durch — aber nicht ganz genau. Vom größeren Teil mußte er etwas abbeißen und runterschlucken, darauf bestand der Igel mit dem kleineren Teil. Leider biß er zuviel ab. Und so ging es immer abwechselnd, bis am Ende zwei exakt gleichgroße Kügelchen übrig blieben. Die Igel waren zufrieden und bedankten sich artig. Als Kinder haben wir über den Unfug gelacht. Als Erwachsene verankern wir ihn im Grundgesetz.

 

2.2.3.7. Überwindung des Potentialwalls

Bevor auf die Überwindung des Potentialwalles eingegangen werden kann, sind noch einige klärende Bemerkungen notwendig, die gewisse Eigenschaften der potentiellen Energie veranschaulichen. Sehr allgemein gilt, daß die höchste potentielle Energie bei totaler Beziehungslosigkeit der Materiepartikel vorliegt. Die Organisierung der Materie (also ein Beziehungsaufbau) führt in potentialärmere (und somit stabilere) Zustände. → Elementarteilchen → Atom → Verbindung → Lebewesen → gesellschaftlich planendes Lebewesen. Durch den Beziehungsaufbau wird die Materie stärker ausdifferenziert, die Anzahl der Freiheitsgrade nimmt zu und die Möglichkeiten der weiteren Interaktion werden zunehmend adäquater. Beschränken wir uns innerhalb der Materie auf das Paradigma Menschheit: Schon der Übergang vom Affen zum Urmensch war ein Wechsel in einen potentialärmeren Zustand, bei dem sich die freiwerdende kinetische Energie auf die neu hinzukommenden Freiheitsgrade verteilt. D.h., die höhere Flexibilität führt am Anfang der Menschheitsgeschichte zur besseren Anpassung an die Umweltbedingungen und zu höheren Überlebenschancen. Im weiteren Verlauf bedeutet es die zunehmende Selbstverwirklichung des Individuums. Innerhalb der Menschheitsgeschichte liegt das Maximum der potentiellen Energie in der Urgesellschaft und das Minimum ist das Ziel der adäquaten Gesellschaft.

Es bleibt festzuhalten: am Anfang existiert eine potentielle Energie des Systems Menschheit, die nicht durch die Menschheit selbst — in Form irgendeiner Arbeit — in den Zustand des Systems gebracht wurde. Diese potentielle Energie besteht in den verborgenen Möglichkeiten, die vor der Herausbildung des Menschen noch folgende sind: Arbeitsteilung, Werkzeuggebrauch, Kommunikationsmittel, Verständnis für Naturvorgänge, Organisation in Hierarchien usw. Wenn durch Entdeckungen die verborgenen Potentiale abgebaut und die freiwerdenden Differenzbeträge an Energie genutzt werden, verlagert das System seinen Zustand auf ein potentialärmeres Niveau. All solche Übergänge verlaufen über einen geringfügigen oder höheren Potentialwall.

Solange es sich um kleine Potentialwälle handelt, kann die Aktivierungsenergie von einzelnen oder wenigen »energiereichen« Personen aufgebracht werden oder sie resultiert aus der Antizipation des bevorstehenden Entdeckungserfolges oder der Zustandswechsel verläuft als Kettenreaktion, so daß die freiwerdende Energie als Aktivierungsenergie den nächsten Personen dient. Solche Übergänge kann man als evolutionäre Zustandswechsel bezeichnen.

Die Personen, die die meiste Energie besitzen (das bedeutet sowohl geistige Energie und Inspiration, wie auch physische Macht und Einflußmittel) werden logischerweise die Aktivierungsenergie solchen Zustandswechseln zuführen, die ihnen nützlich erscheinen und können infolge dessen ihren Einfluß weiter ausbauen. In dem Maße aber, wie sie sich als Nutznießer eines Zustandes sehen, begeben sie sich in die Abhängigkeit dieses Zustandes und stehen weiteren (ihnen fremden) gesellschaftlich wirksamen Zustandswechseln auf potentialärmeres Niveau konservativ gegenüber. Das äußert sich darin, daß sie relevanten Entdeckungen eine Notwendigkeit und Möglichkeit absprechen, daß sie versuchen, diese zu verhindern oder deren Gebrauch. Neben diesen starren Methoden hat sich zunehmend gezeigt, daß elastische repressive Methoden weniger störanfällig sind. Dem wird entsprochen, indem der allgemeine Gebrauch gebilligt, ja sogar gefördert und dabei kanalisiert wird, aber gleichzeitig die freiwerdende Energie, in status nascendi eine systemstabilisierende Arbeit verrichten muß. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es wird natürlich keine Person, die ihre Position im Status quo erhalten will, das bewußte Anliegen haben, dem System potentielle Energie zuzuführen. Dennoch ist es das Resultat ihrer Bemühungen, das System soweit auszusteifen, daß die neue Entdeckung zu keiner Veränderung der Verhältnisse führt. Dabei verlagert das System zwar seinen Zustand, aber nicht wesentlich, denn das Maß der potentiellen Energie bleibt erhalten, vergleichbar mit einem (reibungsfrei betrachteten) Vorgang, bei dem das chemische Potential eines Bleiakkumulators abgebaut wird, indem ein angeschlossener Motor einen Stein auf eine bestimmte Höhe hebt. Trotzdem der Betrag der potentiellen Energie etwa konstant bleibt, ist es bedeutend, zwischen dem Zustand vor und nach der Entdeckung zu unterscheiden, d.h. zwischen den unbekannten und den verhinderten Möglichkeiten.

Würde beispielsweise ein neuartiges, billiges, schnelles und von jedermann zu handhabendes Druckverfahren über Flugschriften obrigkeitsfeindliche Aufklärungsarbeit in einer herrschenden Diktatur leisten können, dann müssen repressive Mittel im Dienste der Systemstabilisierung eingesetzt werden, die mit der jeweiligen Wirkungslosigkeit der starren durch elastischere ersetzt werden: Verbot → Limitierung der technischen Verfügbarkeit → Zensur der Inhalte → ideologische Beeinflussung der Verfasser → allgemeine Verstörung der Leser → Überschwemmung statt Zensur. Das Beispiel zeigt: Vor der Entdeckung bestimmte eine a priori-potentielle Energie den Zustand.  Demgegenüber ist die nach der Entdeckung investierte Systemstabilisierungsenergie eine Arbeit, die reaktionär zielgerichtet, wenn auch nicht bewußt, von Menschenhand geleistet wird. Diese Form der potentiellen Energie ist — nun da die Entdeckung entdeckt ist — auch schneller wieder freisetzbar. Wobei letzteres sehr stark von der Verschachtelung der systemstabilisierenden Maßnahme abhängt: Ein zentralistisches Verbot läßt sich ruckartig wieder einreißen, wohingegen dezentralisierte Maßnahmen von miteinander verkoppelten Regulationsmechanismen (Bürokratie, Ideologie, Selbstzensur, sadomasochistische oder konformistische Ausrichtung des Bevölkerungscharakters usw.) eine starke Bremsung des Wiederfreisetzungsprozesses bewirken. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit — und das ist die Situation in den Demokratie genannten Diktaturen — durch ein Überangebot an auszuwählenden Optionen, durch Verstörung und Überschwemmung, durch Suggestion und Schaffung von Minderwertigkeitskomplexen die Bevölkerung soweit in Lethargie und Unaufmerksamkeit zu treiben, daß diese feingliedrigen Systemstabilisierungsmaßnahmen als solche nicht erkannt werden und deswegen zu schwer freisetzbaren Potentialen werden. Trotzdem sind die Entdeckungen entdeckt und die Systemstabilisierung bleibt für Menschen, die sich gegen den Einfluß immunisieren, prinzipiell durchschaubar. Das bedeutet für die Potentiallage des Systems, daß es von wesentlich potentialärmeren Gebieten umgeben ist, dazwischen aber ein hoher Wall an Aktivierungsenergie liegt. Aus thermodynamischer Sicht (die nur den Anfangs- und Endzustand berücksichtigt) müßte ein sehr heftiger Zustandswechsel erfolgen, während aus kinetischer Sicht (die den Weg dahin untersucht) kaum eine Übergangsmöglichkeit gegeben ist, wenn dem System von außen keine Aktivierungsenergie zugefügt werden kann, da es als abgeschlossen gilt. In dieser konfliktreichen Situation sind evolutionäre Übergänge in tiefere Potentiallagen nicht mehr möglich. Sollte aber von irgendwoher die Aktivierungsenergie aufgebracht werden, erfolgt eine Revolution. Die Hauptinteressenten des Status quo sind nun völlig gezwungen, die mit jeder gesellschaftlich relevanten Entdeckung freiwerdende kinetische Energie sofort systemstabilisierend zu verbrauchen und alle Möglichkeiten der Aktivierung zu verhindern.

 

Aber ist denn theoretisch überhaupt ein Zustandswechsel auf ein tieferes Energieniveau möglich, woher soll die nötige Aktivierungsenergie kommen und wer könnten die Protagonisten dafür sein? Diese Fragen können wir nur beantworten, wenn wir die Besonderheiten der menschlichen Natur in unserem Modell berücksichtigen: die Fähigkeit der Erkenntnis, der Kommunikation, der Planung und das Bewußtsein. Bisher hatten wir nämlich nur das sich selbst nicht reflektierende Verhalten der unbelebten Materie betrachtet und mußten von der Zufälligkeit des Zusammentreffens der energiereichsten Teilchen ausgehen, was die Wahrscheinlichkeit für Übergänge, die von einer revolutionären Situation gekennzeichnet sind, gegen Null gehen läßt. Betrachten wir nochmals die Maxwell-Boltzmann-Verteilung der kinetischen Energie der Teichen, dann stellen wir fest, daß in einem gewissen Mindestvolumen genügend Teilchen vorhanden sind, die eine ausreichende Energie für einen reaktiven Zusammenstoß, also einen Zustandswechsel, besitzen. Dieser wäre aber nur dann denkbar, wenn sie sich für einen geplanten Übergang organisieren könnten.

Und genau das könnte die Menschheit.

 

An dieser Stelle müßte einiges klar werden:

Erstens, daß die vordergründige Sorge der Hüter des Systems nicht der Frage gelten muß: wie energiearm sind die Teilchen, sondern daß diese möglichst unterschiedlich in ihren Ambitionen und Überzeugungen ausgerichtet sind, damit sie sich für ein gemeinsames Ziel nicht organisieren. Verstörung und Überschwemmung sind dafür probate Mittel, wie auch die Stimulierung des Individualismus. Dieser Individualismus ist insofern auch zweckdienlich, weil er die Herausbildung der Individualität scheinbar befriedigt.

In den Spielregeln des Systems verbirgt sich allerdings eine, wenn auch nicht sofort ersichtliche Ordnung, die größtenteils gnadenlos ist. Menschen, die an dieser Ordnung scheitern, ziehen sich oft ins Private oder Individualistische zurück und stehen Strukturen und Ordnung allgemein ablehnend gegenüber, ohne zu begreifen, daß nicht die Strukturiertheit an sich ihr Scheitern verursachte, sondern die konkrete Willkür dahinter, daß stattdessen eine Strukturlosigkeit erst recht dem nützen würde, der die Macht hat und diese dadurch noch hemmungsloser durchsetzen könnte, und daß den Gescheiterten nur eine Struktur oder Ordnung — eben eine andere — aus diesem Dilemma helfen kann.

 

Zweitens, daß es für einen Zustandswechsel von großer Bedeutung ist, inwieweit der Mensch über ein Selbstbewußtsein verfügt. Selbstbewußtsein, fälschlicherweise oft mit Eigensucht, Arroganz oder Selbstbehauptung assoziiert, bedeutet, sich seiner Situation unverfälscht bewußt zu sein, seine Bedürfnisse zu kennen und für deren Befriedigung die Möglichkeiten von den Illusionen unterscheiden zu können. Somit bedeutet es auch, Klarheit zu erlangen, ob sich Realisierungsmöglichkeiten innerhalb des hiesigen Systems überhaupt anbieten. Hierin liegt folgende Schwierigkeit: Unsere Gesellschaft fordert und verteilt für fast alles eine Berechtigung. Aber die bloße Existenz reicht ihr nicht für die Erteilung einer Existenzberechtigung, sie fordert mehr: Erfolg. Der Mensch, genetisch als gesellschaftlich veranlagt, kann auf die Anerkennung seiner Mitmenschen nicht verzichten, also braucht er entweder Erfolg, oder er bildet sich ihn ein. Ein mittelmäßig erfolgloser Mensch muß enormes Selbstbewusstsein haben, sich diesen Fakt einzugestehen und die ursächlichen Mechanismen zu durchschauen. Der Normalfall neigt dazu, sich zu den Erfolgreichen zu zählen, zu denen, die vom Status quo profitieren, und wird, obwohl er selbst der Leidtragende ist, durch die Paradoxie der Verhältnisse, zur wichtigen Stütze des Systems. Hier spielen die Illusionen ihre wesentliche Rolle: Weil alle Bauernsöhne hoffen, ihre unerquickliche Lage lösen zu können, indem sie die eine Königstochter zur Frau bekommen und damit selbst König werden, plädieren sie für Verhältnisse, in denen der König auf Kosten der Bauern lebt.

 

Und Drittens, daß der Teil der Menschheit, der einen nunmehr nur noch revolutionär möglichen Zustandswechsel anstrebt und sich ausreichend aktiviert fühlt, diesen — ganz allgemein und unabhängig wohin — nur dann erreicht, wenn er zuvor einen Konsens herstellt. Dieser Konsens ist eine Ebene der Begegnungsmöglichkeiten, auf der sich die energiereichen konsensbejahenden Teilchen konzentrieren, um Ziel, Weg und Mittel des Zustandswechsels zu konzipieren. Ein Konsens kann hergestellt werden durch die Methoden mentaler Beeinflussung wie Propaganda, Suggestion oder Religion mit dem Ziel der verbindlichen Vermittlung von Axiomen, auf deren Grundlage sich dann ein ideologisches Gebäude errichten läßt. Dafür bedarf es Macht. Für die Machtlosen gibt es nur einen Konsens, der immer gültig und jedem zugänglich ist: die Wahrheit.

Jeder andere Konsens, der auf der Basis einer Konvention beruht, die nicht mit der Wahrheit kompatibel ist, wird, wenn er die Grundlage liefert, den Potentialwall zu überschreiten, auch nur wieder in ein nicht viel tieferes und von hohem Wall umgebenes Niveau führen, da nun diese Konvention stabilisiert werden wird. Nur die Wahrheit als Konsens ist fähig, das System in eine tiefere und offene Potentiallandschaft zu führen. Wenn sich dann im System Spielregeln herausbilden, die einer weiteren Veränderung nicht mehr antagonistisch gegenüberstehen, die eine evolutionäre Weiterentwicklung in potentialärmere Gebiete dulden, wären die Epochen der Diktaturen beendet. Wer so etwas sagt, wird der Träumerei bezichtigt — und zwar genau von jenen, die fest die Augen verschließen müssen, denn woanders finanziert der Albtraum des Krieges ihre Träumerei von der Lösung der Probleme innerhalb des Paradigmas.

 

2.2.4. Weitere Formen der Verschwendung

Bereits den bisher genannten Formen der Verschwendung war es eigen, daß die Maßnahmen nicht nur überflüssig, sondern schmerzhaft überflüssig sind. Zumindest ist das Leid, wenn es von Menschenhand verursacht wird, ein schrecklicher Spezialfall der Verschwendung, den wir im Überfluß produzieren, nämlich die negative psychoökonomische Bilanz und psychische Deformation des Menschen in der entfremdeten Gesellschaft und als Höhepunkt den Krieg.

Weitere Verschwendung liegt in der Akkumulation von Unwahrheiten.

 

2.3. Weigerung

Wenn am Anfang von Punkt 2 nach den Hauptgründen gefragt wird, die es erzwingen, sich gegen die herrschenden Spielregeln zu positionieren, dann müssen auch die Fragen gestellt werden, ob das möglich ist und was sich daraus ableitet. Kann man sich der allumfassenden Suggestionsmacht entziehen? — Einige wenige können das. — Ist das bedeutend? — Ja, eine einzelne offen vorgebrachte Weigerung hat mehr Wirkung als der Suggestionsdruck, der von zehn Mitläufern ausgeht. Erinnern wir uns an das Milgram-Experiment: der Gehorsam sank auf 10 %, wenn eine anwesende Person sich der Fortführung widersetzte. Und auch der Konformitätstest von S. Asch hat noch einen zweiten Teil, nämlich, daß die Versuchsperson weitestgehend ihrer eigenen Auffassung gemäß entscheidet, sobald eine anwesende Person das ansonsten einhellig abgegebene Fehlurteil durchkreuzt.

Auf diesen einen kommt es oftmals an. Und das berührt die Frage nach der Verantwortung schon sehr stark.

 

2.4. Verantwortung

Wählt ein Projekt die Verantwortung als sein Hauptthema, dann wird es auf das Wohlwollen fast aller guten Menschen stoßen. Das bedeutet noch gar nichts, solange nicht Einigkeit vorherrscht, worin die Verantwortung besteht. Helmut Kohl wird sich bei der Vollstreckung der deutschen Einheit genauso verantwortlich gefühlt haben, wie Ulrike Meinhof bei der Niederschrift des Manifestes »Das Konzept Stadtguerilla«. Wenn wir uns nämlich damit zufrieden geben wollen, daß jeder seine Taten rechtfertigend das Wort Verantwortung anders definiert, dann können wir diesen Lendenschurz auch gleich fallen lassen. Eine allgemein gültige Definition muß auf Fundamenten beruhen; und dafür Begriffe zu wählen, die selbst nur auf der Oberfläche schwimmen, wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Zukunft, Schuld oder Pflicht, reiht den Versuch sofort in das Arsenal der Ideologie ein. Richtigkeit und Bestand kann nur eine Theorie haben, die nicht von kulturell gesetzten Prämissen, sondern von der unveränderlichen Kondition des menschlichen Wesens ausgeht.

 

Jede Theorie hat ihre Begründungen, Randbedingungen und dialektischen Verflechtungen in anderen Theorien und diese wiederum in anderen. Daß ein solcher Text, der über die Verantwortung des Künstlers etwas Fundiertes aussagen will, sich mehr mit den Grundlagen der Grundlagen beschäftigen und dabei immer mehr in Breite und Länge gehen muß; und doch irgendwo einen Schlußstrich ziehen und einen schuldig gebliebenen Beweis hinterlassen muß und letztendlich doch keine fertige Handlungsliste dem Leser übereignet, dafür aber Argumente für eigene Interpretationen, liegt im Wesen der Sache.

 

2.5. Künstlerdilemma und Künstlerliste

Manche Künstler haben nicht mehr Selbstbewußtsein als unsere Bauernsöhne und machen sich auf den Weg zum König. Das brachte Prof. W. Ullrich auf die Idee zur Ausstellung »Macht zeigen — Kunst als Herrschaftsstrategie« im Deutschen Historischen Museum. Er wollte demonstrieren, »wie Kunstwerke dazu verwendet werden, ein breiteres Publikum zu befremden und zu verunsichern, diejenigen hingegen, die sich zu einem spröden Gemälde oder einer rätselhaften Skulptur bekennen, ungewöhnlich und erhaben erscheinen zu lassen«. Auch wenn das wie verfehlt wurde, belegte die Ausstellung ein daß.

Darüber wird sich ein älterer noch immer erfolgloser Künstler die Hände gerieben haben und schmunzelnd denken: »Aha, Baselitz, Leipziger Schule, sogar Jonathan Meese sind also doch Staatskünstler«. Aber daß diese Häme reiner Neid ist, zeigt sich daran, daß er nach ihnen schielt, wenn er selbst malt. Vielleicht braucht der König noch ein Bild mehr. Aber genauso wenig wie die Königstöchter für alle Bauernsöhne reichen, reichen die Könige nicht für all die verstörenden Bilder. Das einzige was er schafft ist, daß er sich zum Schüler des Staatskünstlers macht und dessen Schule begründet.

Junge Künstler sind unbefangener, kennen keinen Neid, für den man sich schämen müßte. Ganz im Geiste eines sportlichen Wettkampfes aufgewachsen, ist ihnen der Sieg wichtiger als das Ziel.

Doch egal, ob man fröhlich mitmacht, weil man die Suggestion des Kulturregimes nie gespürt hat, da sie allumfassend ist, oder seinen Neid mühevoll verdrängt — authentisch kann erst derjenige werden, der gleichmütig seiner Erfolglosigkeit begegnen kann, die herrschenden Mechanismen durchschaut und aufrichtig und engagiert versucht, denen etwas entgegen zu setzen.

Das soll nicht gegen Vorbilder sprechen, ganz im Gegenteil: ist es nicht gerade die Stärke eines Künstlers, wenn die konkreten Verwirklichungen seiner Konzepte andere Künstler aus kunstimmanenten Gründen inspirieren.

Es gilt eben zu unterscheiden, ob der Mainstream daher kommt, weil die Erneuerungen der Avantgarde fachlich überzeugend sind und andere zur Aufnahme und Weiterentwicklung animieren, oder ob ein Künstler unbewußt einen bereits erfolgreichen kopiert, in der Hoffnung, dadurch am Erfolg teilzuhaben, oder weil er sich gar nichts anderes vorstellen kann. Und wer dazwischen zu unterscheiden vermag, kann auch das defensive Argument, es hätte schon immer Moden gegeben, wie z.B. Kubismus oder Surrealismus usw., leicht entkräften, besonders, wenn er sich die kunsttheoretische Literatur der jeweiligen Epochen zur Hand nimmt: Jacques Riviéres Auseinandersetzung mit dem Kubismus und André Bretons Schriften über den Surrealismus sind tiefgründig und nachvollziehbar, im Gegensatz zu dem pseudointellektuellen Geschwafel über die heutige Kunst, das genau jene zu verstehen meinen, denen das Erlebnis, etwas zu verstehen, bisher versagt blieb. Das alles wird seinen Grund haben und der wird darin liegen, daß kunstimmanente Aspekte in den Hintergrund treten, wenn es um die Stabilisierung unseres Kulturregimes geht. Das, was sich hierbei herauskristallisiert, Staatskunst zu nennen, wäre falsch, aber es hat sehr viel mit Macht und Systemerhaltung zu tun; es ist auch nicht der viel zu auffällige Propagandarealismus, sondern die verstörende Flut, die jegliche Klarheit im Denken wegschwemmt.

 

Ein Künstler kann unter diesen Bedingungen drei verschiedene Haltungen einnehmen: sich bei der allgemeinen Verstörung beteiligen, die unerträglichen Zustände beschönigen oder sich dem Trend widersetzend seiner Kunst einen nachweisbaren Sinn geben. Doch da stellen uns gleich mehrere Paradoxien ein Bein:

-   daß die Verstörer glauben, sie seien unangepaßt, weil sie sich für das Gegenteil der Beschöniger halten.

-   daß die Beschöniger glauben, ihr Kitsch sein Schönheit.

-   daß wiederum die Verstörer wirkliche Schönheit des Kitsches bezichtigen.

-   und das Traurige: daß so mancher Rebell mit verstörender Kunst die Macht zu attackieren versucht, die er, ohne es zu merken, damit festigt.

Um dieses Wirrwarr zu entfitzen, herauszufinden, welche Rolle die Kunst spielen sollte und welche sie jedoch in Wirklichkeit spielt, bedarf es einer wissenschaftlichen Kulturbetrachtung.

Dann könnte man herausfinden, welche Kunst der Repression wirklich etwas entgegensetzt und hätte auch eine Grundlage für eine Künstlerliste.